Das Geschäft mit Cannabis boomt – die Branche wartet auf die finale Freigabe
Ein Berliner Start-up hat sich am Markt für medizinisches Cannabis etabliert. Innerhalb eines Jahres hat sich der Umsatz schon vervierfacht.

Eine ehemalige Fabriketage in Schöneberg, Feurigstraße, Hinterhof, zweiter Stock. Eine schwere Eisentür öffnet sich, gibt den Blick frei auf eine orangfarbene Leuchtreklame an der Stirnwand: „Can o“. Davor ein langer Tisch, an dem gerade gegessen wird. Auf einem flachen Tresen nebenan stehen Saftflaschen, liegen Obst, Lollys. Jemand gießt sich Kaffee ein. Start-up-Atmosphäre, typisch Berlin und doch wieder nicht, denn das, was sie hier machen, ist einzigartig für die Stadt, für Deutschland.
Das „Can o“ an der Wand könnte für Cannabis stehen, ist Teil des Namens Cantourage. Die Firma stellt medizinische Cannabisprodukte her und vertreibt sie – THC, Extrakte, Blüten. Sie hat an die 35 Mitarbeiter in Deutschland und bis zu zehn weitere in der Dependance in Großbritannien. Das Start-up operiert seit 2019 in einem Wirtschaftssektor mit enormem Potenzial.
Deutschland ist europaweit der größte Markt für medizinisch genutztes Cannabis. Von 150.000 Patienten gehen Schätzungen aus, an die rund 20 Tonnen werden hierzulande pro Jahr abgegeben. Es könnte in nicht allzu ferner Zukunft bis zu zwanzigmal mehr sein.
Denn SPD, Grüne und Linke wollen den Freizeitkonsum legalisieren. CDU/CSU und AfD lehnen dies ab. Es geht um 400 Tonnen Cannabis, die mutmaßlich derzeit auf dem Schwarzmarkt jährlich abgesetzt werden. Ein großes Geschäft, an dem viele teilhaben möchten. Die Branche ist in Bewegung, bis auf Weiteres natürlich nur im medizinischen Bereich.
„Früher haben kanadische Unternehmen zusammen mit Bedrocan aus den Niederlanden den deutschen Markt unter sich aufgeteilt“, sagt Philip Schetter, der Geschäftsführer von Cantourage, vor einiger Zeit noch selbst CEO bei einem dieser kanadischen Konzerne, Aurora mit Namen. „Das war quasi ein Oligopol.“ Oligopole erschweren den Wettbewerb, was sich bei den Preisen ungünstig für die Konsumenten auswirkt. Doch die Vormachtstellung der Kanadier und Niederländer schwindet.
Berliner Cannabis-Start-up erwartet viermal höheren Umsatz
„2021“, sagt Schetter, „hatte Cantourage zum Beispiel rund 25 Prozent Marktanteil im Dronabinol-Segment in Deutschland.“ Dronabinol bezeichnet den Wirkstoff Tetrahydrocannabinol, kurz THC, gewonnen aus der Blüte der Hanfpflanze. „Wir sind ein kleines Unternehmen, das profitabel wächst“, sagt Schetter. „Wir haben in den ersten fünf Monaten dieses Jahres schon genauso viel Umsatz gemacht wie im ganzen vergangenen Jahr. Es sieht sehr danach aus, dass wir den Umsatz in diesem Jahr vervierfachen.“
Im Jahr 2021 setzte die deutsche Cannabis-Sparte etwa 400 Millionen Euro um und dürfte dieses Ergebnis 2022 fast verdoppeln. Gemessen an den 54 Milliarden der gesamten Pharmabranche ist das zwar relativ bescheiden, doch die Zuwächse sind nahezu exponentiell. Allein der Markt für medizinisches Cannabis wird bis 2028 auf 7,7 Milliarden Euro geschätzt, zusammen mit dem Freizeitgebrauch auf 16,2 Milliarden Euro.
Schetter sitzt in einem Konferenzraum. Durch eine Panoramascheibe kann er hinüber zu dem Tisch schauen, an dem gerade noch gegessen wurde. Vor der Scheibe aufgereiht sind kleine bunte Tüten, ein Teil der Produktpalette. Der Inhalt einer größeren silbernen Tüte stammt aus Uganda. Das gehört zu dem Geschäftsmodell, das Cantourage zu einem Alleinstellungsmerkmal in Deutschland verhilft: Das Start-up importiert die Grundsubstanz und stellt Medizin daraus her, an einem Ort in Süddeutschland. Gelagert wird sie über die Republik verteilt, unter anderem in Schönefeld. Die Konkurrenz dagegen transferiert Fertigware nach Deutschland.
Man hat bei CBD ein viel größeres Spektrum an Nebenwirkungen.
„Aktuell haben wir Partnerverträge mit 28 Unternehmen von nahezu allen Kontinenten“, sagt Schetter. Darunter befinden sich Anbauer in Uganda, Jamaika, Uruguay, Australien, Neuseeland, Südafrika, Portugal und Kanada. Sie liefern unterschiedliche Qualität, die sich im Preis niederschlägt. „Das fängt bei acht Euro an.“ Pro Gramm. „Damit liegen wir unter dem Schwarzmarktpreis“, sagt der Geschäftsführer.
Die Kundschaft teilt er in zwei etwa gleich große Gruppen ein. Die eine besteht aus Patienten, die das Cannabis über ihre Krankenkasse abrechnen können. Die andere bekommt zwar ein Rezept vom Arzt, jedoch die Kosten nicht erstattet. Es ist die Gruppe der Selbstzahler.
Für Knud Gastmeier hat diese Zweiteilung etwas Willkürliches. Der Facharzt für Anästhesiologie, Schmerztherapeut und Palliativmediziner aus Potsdam sagt: „Die Praxis bei Genehmigungen für THC durch die Krankenkassen ist nach wie vor eine Tragödie. Bei den Kassen entscheidet ein Nichtmediziner darüber, ob die vom Arzt als indiziert angesehene Medizin dem Patienten zugutekommt.“
Rund ein Drittel der Anträge auf Übernahme der Kosten wird abgelehnt. Bei manchen Diagnosen geschieht das grundsätzlich. „Zum Beispiel bei ADHS, wo THC auch sehr gut wirkt.“ Bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung.
Das fängt bei acht Euro an, damit liegen wir unter dem Schwarzmarktpreis.
Seit März 2017 gilt das Gesetz „Cannabis als Medizin“. Verschrieben werden die Wirkstoffe der Hanfpflanze seither vor allem in der Schmerztherapie. Das ergab eine Umfrage der Plattform copeia.de. Die GmbH will nach eigenen Angaben Transparenz bei Arzneimitteln auf Cannabis-Basis schaffen. 1500 Patienten wurden befragt. Mehr als die Hälfte wies sich als Selbstzahler aus. Die meisten Befragten gaben an, Cannabisprodukte zu nehmen, um Schmerzen zu lindern, nämlich 52 Prozent. Schlafstörungen, innere Unruhe, Stress und Anspannung waren weitere Symptome.
„Ältere Leute zum Beispiel stehen extrem unter Stress, wenn sie Angst vor dem Verlust der Selbstständigkeit haben, vor Hilfsbedürftigkeit“, sagt Gastmeier. „In solchen Fällen haben kleinste Mengen THC einen positiven Effekt.“
Beispiel Kanada: Wenn die organisierte Kriminalität Fuß fasst
Über Apotheken vertrieben wird aber nicht nur der THC-Wirkstoff Dronabinol, sondern auch CBD, das ebenfalls in Cannabis enthalten ist. Allerdings: „Man hat bei CBD ein viel größeres Spektrum an Nebenwirkungen“, sagt Gastmeier. „In der Wissenschaft werden zum Beispiel Leberschäden diskutiert.“ Zu den Cannabisextrakten wiederum gebe es „die merkwürdigsten Vorstellungen“, berichtet der Potsdamer Arzt. „Ein Extrakt wirkt gegen Schmerz A, das andere gegen Schmerz B. Das ist aber wissenschaftlich nicht haltbar.“
Sieben Prozent der befragten Patienten nutzen laut Copeia-Studie Dronabinol, 13 Prozent Extrakte, 76 Prozent Blüten, die laut Gastmeier aber eine wenig zielgerichtete, eher diffuse Wirkung entfalten. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) kommt in einer Vergleichsstudie mit Kassenpatienten zu einer anderen Gewichtung, wonach Dronabinol mit 65 Prozent überwiegt.
„Das Problem liegt darin, dass der Handel mit medizinischem Cannabis ein riesiges Geschäft ist“, sagt Gastmeier. „Die Ärzte bekommen die Extrakte förmlich in die Praxis geschüttet, ohne dass ein Grundverständnis für die Wirkweise der Cannabinoide vorhanden ist.“ Immerhin bleibt am Ende die Erkenntnis: „Die Substanzen sind eigentlich alle per se relativ sicher. Auch die Blüten.“
Und wie groß ist das Potenzial, abhängig zu werden? Das, sagt Gastmeier, sei deutlich geringer als bei Alkohol, gleichwohl aber vorhanden. „Suchtgefahr besteht in dem Moment, wenn Menschen Cannabis in der Selbsttherapie als vermeintlichen Problemlöser einsetzen.“ Genau darin liegt dem Arzt zufolge das Risiko bei einer kompletten Freigabe. Der Freizeitgenuss kann dazu führen, dass unangenehme Empfindungen abklingen: Stress oder Depression zum Beispiel. Beschwerden werden gelindert: Verspannungen oder Schlaflosigkeit.
„Wenn das im Rahmen der Selbstmedikation passiert, was durchaus möglich ist, dann kommen Steigerungseffekte dazu.“ Es fehle die fachkundige Begleitung, ein leichter Zugang zu Medizinern, die bereit seien, Cannabis einzusetzen. „Den therapeutischen Effekt, den die Patienten auch sehen, wollen viele Ärzte nicht nachvollziehen“, sagt Gastmeier. „Das Arzneimittel Cannabis wird immer wieder als ‚Joint‘ in Verruf gebracht, um sich mit dem medizinischen Problem nicht auseinandersetzen zu müssen.“
Philip Schetter vom Start-up Cantourage registriert immerhin ein wachsendes Interesse in der Ärzteschaft. Anfragen beim Unternehmen nach Studien und Daten würden das zeigen. „Es gibt noch viel zu tun, aber es wird zunehmend besser“, sagt der Geschäftsführer, der spätestens bis 2024 mit einer vollständigen Freigabe rechnet. Er sieht darin eine Chance und warnt vor einem vermeidbaren Problem.
„Kurz bevor Cannabis in den USA und Kanada final freigegeben wurde, hat die Nachfrage nach Produkten im medizinischen Bereich stark angezogen“, sagt Schetter. „Cannabis wurde mehr verschrieben. Vermutlich lag das an der gesellschaftlichen Debatte. Vielleicht haben Ärzte und Patienten gesehen, dass der therapeutische Nutzen die Risiken aufwiegen kann.“
Damit der Schwarzmarkt zurückgedrängt werde, müsse allerdings schnell ein Vertriebssystem aufgebaut werden. Auch das habe sich in Kanada gezeigt, wo sich zwischenzeitlich die organisierte Kriminalität im Cannabis-Geschäft breitmachte. Glaubt man Prognosen, handelt der Staat nicht zum Nulltarif. Die Legalisierung soll jährlich 4,7 Milliarden Euro in die Kassen spülen – durch Steuern, Abgaben und eingesparte Ausgaben für Polizei und Justiz. Das hat der Ökonom Justus Haucap von der Uni Düsseldorf im vorigen Herbst prognostiziert. Es war das Update zu einer Studie von 2018. Erstellt im Auftrag des Deutschen Hanfverbandes.