David Ranan über religiöses Mobbing: „Intoleranz gehört zum Jugendlich-Sein dazu“
Vor einer Woche berichtete die Berliner Zeitung zum ersten Mal über eine Berliner Grundschülerin, die von muslimischen Mitschülern mit dem Tod bedroht wurde, weil sie nicht an Allah glaubt. Der Fall fand bundesweit Beachtung. Von religiösem Mobbing ist die Rede, aber auch von Antisemitismus, denn das Mädchen hat einen jüdischen Elternteil.
„Furchtbar und besorgniserregend“, nannte der Regierende Bürgermeister Michael Müller den Vorfall, die Berliner CDU forderte einen Antisemitismusbeauftragten, der Zentralrat der Muslime will Imame an die Schulen schicken. Doch was sagen die, denen jetzt von allen Seiten antisemitisches Denken unterstellt wird?
David Ranan, Kultur- und Politikwissenschaftler in Berlin und London und selbst Jude, hat sich in den vergangenen zwei Jahren mit 70 Muslimen in ausführlichen Gesprächen über Antisemitismus unterhalten.
Herr Ranan, haben wir in Deutschland ein Problem mit muslimischem Antisemitismus?
Wir haben viele Probleme, ein großes ist die AfD, ein großes ist Fremdenhass, hetzende Medien, und ja, es gibt auch Antisemitismus. Klar, wenn mein Kind als jüdisches Kind gemobbt wird, ist das grauenhaft. Das betrifft mich als Vater zu hundert Prozent. Aber die Bundesregierung muss an die ganze Bevölkerung denken und fragen: Wer braucht wirklich Hilfe? Es gibt knapp fünf Millionen Muslime in Deutschland, und sicherlich hat jede muslimische Frau, die ein Kopftuch trägt, schon oft böse Blicke auf der Straße bekommen. Jüdische Frauen haben dieses Problem nicht. Es gibt Antisemitismus, es gibt Schwulenhass, es gibt Araberhass, Ausländerhass schlechthin. Viele Leute hassen viele andere. Dagegen sollte man etwas tun.
Sie relativieren.
Aber sicher tue ich das! Das ist meine Aufgabe als Forscher. Ich kann doch nicht emotional an die Sache herangehen.
Wie bewerten Sie also den Vorfall an der Paul-Simmel-Grundschule in Tempelhof?
Eine Studie aus dem Jahr 2010 hat ergeben, dass in Deutschland eine halbe Million Kinder mindestens einmal in der Woche gemobbt werden. Das ist eine furchtbare Sache. Kinder werden gemobbt, weil sie zu dick, zu dünn, zu arm sind. Jugendliche probieren aus, wie weit sie gehen können. Dass sie intolerant sind, gehört zum Jugendlich-Sein dazu – nicht zum Muslim-Sein. Mobbing ist eine große Herausforderung für Lehrer, für die sie, wie es scheint, nicht genügend sensibilisiert und trainiert sind.
Welche Rolle spielt die soziale Herkunft?
Ein Großteil der Muslime gehört zu den unteren Schichten der Gesellschaft. Darüber sind Jugendliche frustriert, sie suchen nach Schuldigen, nach jemandem, der ihnen die Welt erklärt. Man muss an der Integration arbeiten, daran ist man gescheitert.
Welche Bedeutung haben Soziale Medien bei der Wahrnehmung von Antisemitismus?
Wir wissen, wie leicht es ist, dort seine Meinung zu verbreiten. Was glauben Sie, wie viele Kommentare unter einem Artikel über die Siedlungspolitik in Israel stehen, in denen Israelis andere Israelis in schlimmster Sprache beleidigen und bedrohen – jetzt relativiere ich wieder, aber Hate Speech geht in alle Richtungen. Gespräche, die früher am Stammtisch von ein paar ähnlich denkenden Kumpeln gehört wurden, lesen heute Millionen.
Wie erklären Sie die große Aufregung, sobald der Vorwurf Antisemitismus im Raum steht?
Wegen der deutschen Vergangenheit, wegen Auschwitz. Aber die Frage ist, ob wir wirklich glauben, dass das, was wir hier haben, zu einer Vernichtung des jüdischen Volkes führen wird. Ich sage: Es hat damit nichts zu tun, ein Araber, der gegen Juden hetzt, interessieren den die Juden in Manhattan? Nein, er will die Juden einfach nicht da haben, wo er seinen Hinterhof sieht. Es ist im besten Fall ein Missverständnis, das als Antisemitismus zu bezeichnen, oft ist es Missbrauch. Der Begriff wird benutzt, um Gegner Israels zu diskreditieren. Und Muslime werden durch ihn stigmatisiert.
Was verstehen Sie unter Antisemitismus?
Der britische Philosoph Brian Klug hat die für mich treffende Definition geliefert. „Antisemitismus ist eine Art Feindseligkeit gegen Juden als ‚Juden‘.“ Es ist eine Feindseligkeit, die auf falschen Tatsachen beruht.
Was hat Antisemitismus mit dem Nahostkonflikt zu tun?
In meinen Gesprächen meinten die meisten „Israeli“, wenn sie „Jude“ sagten. Das ist ein Transfer des Nahostkonflikts nach Deutschland.
Und dann von den Eltern an ihre Kinder?
Wenn der Großvater 1948 aus Haifa oder Jaffa geflohen ist, über die Flüchtlingslager in Gaza oder den Libanon irgendwann nach Deutschland gekommen ist, wen hasst er? Die Juden. Das sind die Feinde. Das bleibt natürlich in der Familie, und natürlich bekommen Kinder das mit. In dem größeren Kreis der muslimischen Gesellschaft identifizieren sich dann viele mit dem Leiden ihrer „Brüder“. Wenn ich Schulleiter wäre, wäre es mein Anliegen mit einem besseren Verständnis des Nahostkonflikts zu sensibilisieren. Stattdessen gibt es diese Idee, dass man das Problem mit einem KZ-Besuch löst. Das ist eine Schocktherapie, hilft aber nicht dabei, zu verstehen, warum Kinder so denken.
In Ihren Gesprächen mit Muslimen waren Sie mit der gesamten Palette antisemitischer Stereotype konfrontiert – von jüdischem Reichtum und Macht bis hin zum Motiv der kindermordenden Juden. Woher kommt diese Offenheit für Verschwörungstheorien?
Sie meinen, wie kann es sein, dass eine 22-jährige Studentin glaubt, dass die Welt von nur 120 Menschen regiert wird und die meisten davon Juden sind? Es gibt auch viele, die glauben, dass Gott die Welt erschaffen hat. Und warum? Weil es ihnen hilft mit ihrem Leben fertig zu werden. Verschwörungstheorien erfüllen einen ähnlichen Zweck wie Religionen.
Wie gefährlich ist Ihrer Einschätzung nach dieser muslimische Antisemitismus?
Ich empfinde ihn nicht als so gefährlich. Der Verein ReachOut hat für das Jahr 2017 in Berlin 140 rassistisch motivierte Übergriffe dokumentiert, 67 betrafen Menschen aus der Lesben- und Schwulen-Community und 13 hatten einen antisemitischen Hintergrund. Es ist dann immer von der Dunkelziffer die Rede, die gibt es aber in allen Gruppen.
Sie beschreiben, dass es bei Muslimen eine Art Opferkonkurrenz gibt. Synagogen, sagten Ihre Gesprächspartner, würden von der Polizei bewacht, Moscheen nicht. Woher kommt dieses Gefühl, benachteiligt zu sein?
Neid ist eine sehr natürliche Sache. Muslime fühlen, dass es eine andere Minderheit gibt, die von der deutschen Politik alles bekommt, was sie will. In jeder Stadt steht eine Synagoge, und wenn eine Moschee gebaut wird, gibt es Aufruhr. Das frustriert. Mit gelungener Integration wäre das Frustniveau und auch der Neid niedriger.