Sollte Berlin die Büste der Nofretete an Ägypten zurückgeben?

Seit fast 100 Jahren ist die Nofretete eine Berliner Ikone – eingereist unter dubiosen Bedingungen. Experten stellen jetzt die Grundlage ihrer Ankunft infrage.

Die Büste der Nofretete
Die Büste der NofreteteMike Fröhling/Berliner Zeitung

Ihr kühler Blick ist fesselnd, er lockt die Betrachter schon von dem Moment an, wenn sie den Raum 210 des Neuen Museums zum ersten Mal betreten: Die Nofretete, Weltikone der Schönheit und der unbestrittene Star der Berliner Museumsinsel. Ihre Büste, vor 110 Jahren von einem deutschen Archäologen in Ägypten ausgegraben, ist das einzige Exponat in diesem Saal – und vielleicht zu Recht. Es gibt nur wenige Antiquitäten, die es schaffen würden, nicht in den Schatten der 3400 Jahre alten Königin gestellt zu werden, sei es durch ihre exquisit mit Kajal umrandeten Augen, die Eleganz ihres langen Halses und definierter Wangenknochen, oder das königliche Blau ihrer Helmkrone.

Schon im Jahr 1912 hat der deutsche Archäologe Ludwig Borchardt die Büste der Nofretete in der nordägyptischen Stadt von Tell-el-Amarna ausgegraben, seit 1924 steht sie im Neuen Museum. Fast 100 Jahre später ist sie immer noch das Kronjuwel des Ägyptisches Museum, dessen Bestand 90.000 Objekte beherbergt. Dennoch gehört die Büste zu den Objekten, die die ägyptischen Behörden mit allen Mitteln aus Deutschland zurückholen wollen. Die Frage, wo die Büste hingehört, ist nicht nur in Ägypten oder Berlin ein Thema, sondern auch in den westeuropäischen Debatten über die Rückgabe historischer Artefakte, die während der Kolonialzeit geraubt wurden.

Deutschland hat sich in solchen Debatten bisher kompromissbereit gezeigt, wenn auch mit oft zeitlicher Verzögerung. Wiederholt forderte Nigeria die Rückgabe der Benin-Bronzen und der Tausenden von Metallplatten, die den Palast im antiken Königreich Benin schmückten. Vergangenes Jahr gab Deutschland im Dezember 21 Artefakte zurück. Jetzt, vor der Eröffnung eines spektakulären neuen Ägyptischen Museums in der Pyramidenstadt Gizeh, glauben einige Ägyptologen, es sei an der Zeit, dass die berüchtigte Königin – deren Name „Die Schöne ist gekommen“ bedeutet – dorthin zurückkehren darf, wo sie hergekommen ist.

Experte: Neues Museum sollte die Büste mit einer Replik ersetzen

Einer dieser Experten ist der in Berlin lebende Ägyptologe Hassan Saber. Er weiß, dass Nofretete einen besonderen Platz in den Herzen vieler Berliner einnimmt; er bezeichnet sie als inoffizielle ägyptische Botschafterin in Deutschland. „Nicht alle ägyptischen Antiquitäten müssen aus internationalen Museen zurückgegeben werden“, sagte er der Berliner Zeitung. „Aber einzigartige und ikonische Stücke wie die Büste sollten an den Ort zurückkehren, von dem sie stammen.“

Sabers bevorzugte Lösung ist es, die Büste durch eine moderne Replik im Neuen Museum zu ersetzen, mit Informationstafeln, die die Besucher über die Gründe für Nofretetes Rückkehr nach Ägypten informieren. Er ist der Meinung, dass eine solche Aktion bei Besuchern aus der ganzen Welt Respekt und Interesse wecken würde – und aus einer Marketingperspektive dürfte es auch dem Museum selbst vorteilhaft sein. „Es ist eine moralische Handlung, die das Museum der Nofretete schuldet, wenn es sie wirklich respektiert“, sagt er. Es müsse anerkannt werden, glaubt Saber, dass solche Altertümer in der Regel nur wegen kolonialer Gesetze für die Aufteilung von Antiken, die heute nicht mehr gelten, in Städten wie Berlin, Paris und London ausgestellt werden – und heutzutage müsse man solche Regelungen als das sehen, was sie damals waren.

Die Geschichte der Reise der Büste der Nofretete nach Deutschland begann am 6. Dezember 1912, als Ägypten noch unter britischer Besatzung stand und die Büste von dem deutschen Archäologen Ludwig Borchardt entdeckt wurde. Borchardt brachte die Büste später mit finanzieller Unterstützung von James Simon, dem Leiter der Deutschen Orient-Gesellschaft (DOG), die seine Mission in Ägypten finanzierte, nach Berlin. 

Doch ein Bericht des Spiegel aus dem Jahr 2009 ließ Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Ausfuhr der Büste nach Berlin. Nach dem damaligen rechtlichen Rahmen der so genannten Fundteilung sollte eine Hälfte der Funde an den Finder selbst und die andere Hälfte an Ägypten gehen. Zum Zeitpunkt der Entdeckung der Büste unterstand dies dem französisch kontrollierten Service d’Antiquitès (SdA). Nach Borchardts Ausgrabung entschied der Vertreter des SdA sich offenbar für die Hälfte der Funde, zu der die Büste nicht gehörte. Wie kam es dazu?

Laut einer Zeugenaussage in einem aufgedeckten Dokument der DOG wollte Borchardt „die Büste für uns retten“ – und habe deshalb den zuständigen französischen Archäologen Gustave Lefebvre getäuscht. Borchardt soll die wahre Schönheit und Wert der Büste mit Staub und Stoff verschleiert und dem Kontrolleur „nicht die vorteilhafteste Fotografie“ der Nofretete vorgelegt haben. Um den Inspektor weiter zu täuschen, soll Borchardt im Protokoll auch behauptet haben, die Figur sei aus Gips – in Wahrheit hat sie einen Kalksteinkern mit Stucküberzug.

Kam die Nofretete lediglich wegen einer Täuschung nach Berlin?

Der Text sorgte in Berlin für Aufruhr. Doch der damalige Direktor des Ägyptischen Museums im Neuen Museum, Dietrich Wildung, wollte sich dazu nicht äußern. In einem Interview mit Al-Jazeera meinte er, es gebe aufgrund der Popularität der Büste viele Gerüchte um sie – es sei also nicht möglich, den Wahrheitsgehalt der Geschichte im Spiegel zu bestimmen. Und noch heute sagt ein Sprecher des Neuen Museums auf Anfrage der Berliner Zeitung, „von einer bewussten Täuschung kann überhaupt keine Rede sein“; es soll vor der Teilung nicht nur gute Fotografien gegeben haben, die die Schönheit und Qualität der Objekte eindeutig wiedergaben, sondern auch die geöffneten Kisten standen zur Begutachtung der Objekte bereit.

Seit 1924 hat die ägyptische Regierung dreimal eine Rückgabe der Büste offiziell beantragt. Der letzte Antrag wurde 2009 von Zahi Hawass gestellt, der von 2001 bis 2011 Generalsekretär des ägyptischen Obersten Rates für Altertümer war. In dieser Funktion entwickelte Hawass einen Plan zur Rückforderung von drei besonders wichtigen Artefakten: Den Stein von Rosette im Britischen Museum, die Tierkreise von Dendera im Pariser Louvre-Museum – und die Büste der Nofretete in Berlin.

Hawass bat die drei Museen schriftlich um eine Leihgabe dieser Stücke für das Große Ägyptische Museum in Gizeh. Das Museum, das voraussichtlich 2023 eröffnet werden soll, wird der größte archäologische Museumskomplex der Welt sein und mehr als 100.000 Artefakte des alten Ägyptens beherbergen, darunter die komplette Tutanchamun-Sammlung. Alle drei Anträge wurden jedoch abgelehnt. Die Verwaltung des Neuen Museums begründete ihre Entscheidung mit Bedenken wegen der Zerbrechlichkeit der Büste. Noch heute hält das Museum zu dieser Position. „Aufgrund der Fragilität der Büste sieht sich das Ägyptische Museum Berlin in der Pflicht, alles zu tun, um diese bedeutende Skulptur des Unesco-Weltkulturerbes bestmöglich zu erhalten“, teilt ein Sprecher auf Anfrage der Berliner Zeitung mit. „Aus konservatorischen Gründen ist die Büste – wie auch andere Objekte des Ägyptischen Museums – nicht transportfähig.“

2009 soll das Museum aber auch der Meinung gewesen sein, eine Ausleihe der Büste nach Ägypten würde eine „breite Demonstration“ der Ägypter riskieren, die fordern, dass die Büste nach Ablauf der Leihfrist nicht nach Deutschland zurückgegeben wird. Zahi Hawass kommentierte die Bedenken unverblümt: „Wir sind nicht die Piraten der Karibik.“ Ägypten sei ein „zivilisiertes Land“, das sich an seine internationalen Vereinbarungen halte, sodass kein Zweifel daran bestehen müsse, dass die Büste zurückgegeben würde, wenn eine solche Vereinbarung unterzeichnet würde, so Hawass. Die Angelegenheit endete in einer Pattsituation; seither wurden von Ägypten keine weiteren formellen Anträge auf Rückgabe der Nofretete-Büste gestellt.

Ehemaliger Minister: Wenn Deutschland uns die Büste nicht zurückgibt, dann beweisen wir, dass sie gestohlen wurde

Wie sehen die Ägypter die Frage der verschwundenen Büste heute? Einige Aktivisten fordern die Einrichtung eines leeren Saals im neuen Großen Ägyptischen Museum als Zeichen des Protests. Auch akademische Initiativen setzen sich dafür ein, Nofretete wieder nach Ägypten zu bringen. Zahi Hawass hat einmal geschworen, er würde beweisen, dass die Büste gestohlen wurde, falls Deutschland die Ausleihe nicht genehmigen würde, um sie endgültig nach Ägypten zurückzuholen. Monica Hanna, Dekanin der Fakultät für Archäologie und kulturelles Erbe an der Arabischen Akademie für Wissenschaft, Technologie und Seeverkehr, bereitet derzeit eine Kampagne vor, die genau das zum Ziel hat. Sie recherchiert derzeit in den ägyptischen Nationalarchiven – aber auch zur Überprüfung von Dokumenten, die von deutschen Behörden als Argument gegen die ägyptischen Rechte an der Statue vorgelegt wurden.

Hanna stammt aus dem Gouvernement Minja, demselben Ort, an dem die Büste der Nofretete entdeckt wurde. „Ich fühlte mich immer stark mit Nofretete als einer meiner Vorfahren verbunden“, sagte sie der Berliner Zeitung. Sie sagt, ihre bisherigen Recherchen hätten ergeben, dass das ägyptische Antikenschutzgesetz von 1912 eindeutig vorsah, dass die ausgegrabenen Altertümer zwischen Ägypten und der deutschen Mission geteilt werden konnten, als Alternative zur Übernahme der Kosten, die mit der Entdeckung und Ausgrabung der Artefakte verbunden waren. Es gab jedoch eine Bedingung: Der deutsche Anteil an den Artefakten sollte keine einzigartigen Stücke umfassen. So wie die Büste der Nofretete.

Auf Anfrage der Berliner Zeitung weist das Neue Museum die Vorwürfe eines ungültigen Besitzes der Büste zurück. „Die Büste der Nofretete ist im Zuge der damals geltenden Regelungen zur Fundteilung rechtmäßig nach Berlin gelangt“, so ein Sprecher. „Insofern gibt es keinen Grund zu einer Rückgabe.“ Die Verträge aus der Zeit der Fundteilung hätten auch weiterhin Bestand, die gut dokumentierten Umstände der Ausgrabung ergeben „keinen Unrechtskontext“. Das Museum habe aber seit Jahrzehnten „eng und vertrauensvoll“ mit Kolleginnen und Kollegen aus Ägypten und anderen Herkunftsländern zusammengearbeitet, und stehe auch jederzeit zur Verfügung zu „konstruktiven und im Sinne des Kulturerbes fortgeführten Dialogen um die Zukunft und Verortung von Kunst- und Kulturobjekten“.

Historiker: Jetzt spielt Moral in dieser Debatte auch eine Rolle

Der Fall der Nofretete ist ein gutes Beispiel dafür, so der Archäologe und Historiker Ulfert Oldewurtel, warum die Frage nach historischen Verträgen und Vereinbarungen zwischen westlichen Ländern und deren ehemaligen Kolonien zur Aufteilung von Altertümern heute zu Recht im Vordergrund stehe. „Die Geschichte ist leider nie einfach“, sagt er. Heute, wo eine intensivere Auseinandersetzung mit den Erben des Kolonialismus möglich sei, müsse man sich fragen, ob damals ordnungsgemäße rechtliche Vereinbarungen getroffen wurden – und zwar freiwillig von beiden Seiten. „Ägypten wurde von 1882 bis 1922 von Großbritannien regiert, die französische SdA war bis zum Sturz der ägyptischen Monarchie im Jahr 1952 für die ägyptischen Altertümer zuständig“, erinnert Olderwurtel. „Von 1882 bis 1952 waren also weder das ägyptische Volk noch seine gewählten Vertreter die relevanten Rechtspartner für den Export von Altertümern.“

In den letzten Jahren sei der moralische Aspekt in der Debatte immer mehr in den Vordergrund getreten. Ulfert Oldewurtel verweist auf den 2018 von Emmanuel Macron in Auftrag gegebenen Bericht der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und des senegalesischen Akademikers Felwine Sarr über die Restitution afrikanischer Kunst in Frankreich; dieser Bericht habe einen Meilenstein in der Debatte um die Dekolonisierung von Museumssammlungen dargestellt. Darin sei eine der Schlüsselfragen nicht, „ob das damals legal war“, sondern „ob es moralisch richtig ist, diese Objekte noch zu besitzen“.

Hassan Saber glaubt, es sollte eine globale Konferenz stattfinden, um solche Fragen mit den Ländern zu erörtern, die noch viele ägyptische Altertümer besitzen. „Da geht es nicht darum, einfach jedes einzelne Stück zurückzuverlangen“, sagt er. „Wir brauchen eine Diskussion zwischen Fachleuten, Experten für kulturelles Erbe, internationalen Gesetzgebern und Politikern, um das Thema von allen Seiten zu beleuchten und eine faire Lösung zu finden.“

Ulfert Oldewurtel sagt, er sei „persönlich hin- und hergerissen“, ob die Büste der Nofretete an Ägypten zurückgegeben werden sollte. „Ich liebe die Nofretete-Büste so sehr wie jeder andere Besucher oder jede Besucherin im Neuen Museum“, sagt er; für ihn sei sie eine hervorragende Botschafterin für Ägypten und seine 5000-jährige Geschichte und Kultur. Aber: „Die Politik, die bei der Aufteilung solcher Antiken betrieben wurde, war absolut kolonial – und zwar im schlimmsten Sinne.“

Im Fall der Nofretete glaubt Oldewurtel nicht an eine einfache Lösung. Viele Vorschläge – wie etwa, Artefakte im Rotationsverfahren rund um den Globus zu transportieren – nehmen oft die Zerbrechlichkeit der Objekte und die massiven Kosten einer solchen Aktion nicht in Kauf. Er will aber auch nicht, dass diese Debatte zu einer Welt führt, in der Kunststücke und historische Artefakten nur in den Ländern zu sehen sind, wo sie herkommen. „Aber ich weiß nicht, wie man die Wunden der Geschichte heilen kann, ohne neue zu schlagen.“

Dieser Text wurde aus dem Englischen von Elizabeth Rushton übersetzt. Der Autor Ahmed Elgamal ist ein ägyptischer Journalist, der mit dem Austauschprogramm IJP für zwei Monate bei der Berliner Zeitung gearbeitet hat.