Der große Frust der Lehrer in Berlin: Marode Schulen, gendergerechte Zeugnisse
Dienstag und Mittwoch streikten Lehrer in Berlin. Wir haben mit ihnen über ihren Ärger gesprochen – vom Druck, Vollzeit zu arbeiten, bis zu Gewalt in den Klassen.

Es ist frostig am Dienstagmorgen, aber es sind viele gekommen zum berlinweiten zweitägigen Lehrerstreik: ein großer Pulk Lehrerinnen und Lehrer versammelt sich am Bahnhof Friedrichstraße, um mit Plakaten und Musik Richtung Rotes Rathaus zu ziehen. Mehr als 4000 Lehrkräfte aus Berlin haben sich an diesem Tag zum Streik entschlossen.
Angeführt wird der Demonstrationszug von einer Gruppe, die ein großes Plakat trägt. „Unterrichten statt untergehen!“ steht darauf, und diese Forderung fasst ziemlich gut zusammen, worum es den Streikenden geht: Sie wollen wieder unterrichten. Zeit und Raum haben, um ihren Schülern etwas beibringen zu können, sich um sie kümmern, sie individuell fördern zu können. Und nicht unterzugehen in Stress, in Zusatzjobs, in den immer größer werdenden Klassen.
Kleinere Klassen sind eine der Hauptforderungen der Lehrergewerkschaft GEW. „Die haben zwar alle Parteien bei der letzten Wahl versprochen“, sagt GEW-Sprecher Markus Hanisch. „Aber nichts ist passiert.“ Was stattdessen passiert: Die Ständige Wissenschaftliche Kommission (SWK), ein Beratergremium der Kultusministerkonferenz KMK empfiehlt, die Wochenarbeitszeit zu erhöhen. Dazu passt, dass Lehrer von E-Mails von der Senatsverwaltung erzählen, in denen angehende Rentner dazu gedrängt würden, länger zu arbeiten, und Lehrer in Teilzeit dazu, in Vollzeit zu arbeiten: Tatsächlich arbeitet mehr als ein Drittel der Berliner Lehrerschaft laut GEW verkürzt – so viel wie in kaum einer anderen Berufsgruppe.
Johann Binder, Lehrer an einer Gemeinschaftsschule in Treptow, fürchtet, dieser Druck aus der Politik, das zu ändern, könnte das Gegenteil bewirken: „Viele würden kündigen, zum Beispiel, weil sie Familie und Beruf überhaupt nicht mehr vereinbaren könnten.“ Dazu gehe die Forderung am Problem vorbei. Die Kollegen arbeiteten meistens deshalb in Teilzeit, „weil die Belastungen einfach zu hoch sind, und sie versuchen, ihren Job irgendwie erträglich zu gestalten“. Und da ist die Quereinsteigerin, die nicht nur Mathematikerin ist, sondern auch Bildende Künstlerin: "Ich würde kündigen, wenn keine Zeit für die Kunst bleibt."
Die Hauptsache der Probleme sind laut GEW die fehlenden Lehrkräfte. Fast 1000 sind es zurzeit in Berlin. „Man kann natürlich nicht von heute auf morgen Personal herbeizaubern“, sagt Hanisch. „Aber wir fordern das seit mindestens 2015!“ Man müsse zum Beispiel mehr Lehrkräfte ausbilden. Aber Lehramtsstudiengänge haben oft einen NC, es gibt deutlich mehr Interessenten als Studienplätze. Dazu kommt: Viele brechen ab, wechseln nach dem Bachelor in einen anderen Master. Die Studienbedingungen sind schlecht, sagt Hanisch: „Man wird als Lehramtsstudierender in den Universitäten nicht ernst genug genommen. Die Lehramtsstudierenden gehen in ihren Fächern daher zu oft unter. Die Spitzenforschung wird eben lieber unterstützt als Lehramtsanwärter. Das muss sich ändern: Das Augenmerk der Universitäten muss stärker auf die Lehramtsstudiengänge gelenkt werden.“
Gewalt an Schulen: Eine Strafarbeit, die nicht so heißen darf
Zu einem Rekordhoch beim Krankenstand kommt eine Rekordzahl an Schülern: 37.000 Erstklässler gibt es aktuell, so viele wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Dazu sind 5000 Kinder und Jugendliche aus der Ukraine schon im Berliner Schulsystem angekommen, 1000 weitere haben sich für den Schulbesuch angemeldet. Dazu kommt die Herausforderung der Inklusion aller Kinder in normale Klassen, sagt Louise Müller, die an einer Grundschule in Kreuzberg unterrichtet: „Das ist eine staatlich verordnete gigantische Einsparungsmaßnahme.“
Dabei sollte die Inklusion eigentlich bei der Teilhabe helfen und kein Kind ausschließen. „Aber jetzt gehen Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf, die früher oft in Kleinstklassen sehr eng betreut wurden, in den vollen Klassen gnadenlos unter.“
Auch hier gilt: Wenn Personal fehlt, fehlt auch die Förderung. Denn diese Kinder mit Förderstatus, die also laut Papier Unterstützung brauchen, bekommen wenige Stunden pro Woche eine zusätzliche Eins-zu-Eins-Unterstützung – aber auch die fällt weg, sobald ein Lehrer ausfällt. Und Förderung, ob mit oder ohne Papier, ist immer öfter ein Thema. „Unsere Aufgaben als Lehrer haben sich sehr verändert“, sagt Johann Binder. Es gebe immer mehr verhaltensauffällige Schüler mit dicken Schulakten. „Wenn Kinder sich im Unterricht am Boden wälzen oder Stühle zu Pyramiden stapeln – wie soll man da unterrichten?“
Ein anderer Grundschullehrer erzählt von einem Schüler, der immer wieder die anderen Kinder verprügelt. „Es gab dann nur einmal ein Gespräch oder eine schriftliche Strafarbeit – die übrigens so nicht heißen darf.“ Der Junge machte weiter. Und die Schulleitung habe den Fall mit dem Satz kommentiert: „Er hat schließlich nur seine Mitschülerin geschlagen, und kein Messer dabei gehabt.“
Digitalisierung: Tablets, auf denen Programme nicht laufen
Das Problem: Wenn die Förderung schon an den Grundschulen fehlt, wirkt sich das auf die Zukunft aus, findet die Kreuzberger Lehrerin Louise Müller: „Das schleppt sich weiter, da kann man keine Standards halten. Wir Grundschullehrer werden ja oft nicht ernst genommen, aber wir legen die Grundlagen. Da können die weiter hinten sich später anstrengen, wie sie wollen, das lässt sich kaum mehr aufholen.“ An ihrer Schule seien viele Kinder aus sozialen Brennpunkten, deren Eltern nicht mit ihnen in Bibliotheken oder ins Theater gingen. Solche Aktivitäten könnte man von der Schule aus organisieren – wenn es genug Personal und Geld gäbe.
Dabei gibt es durchaus Gelder, die an die Schulen fließen. „Nur leider oft nach dem Gießkannenprinzip und am Bedarf vorbei“, sagt der Lehrer Johann Binder. Zum Beispiel beim Thema verschleppte Digitalisierung. An vielen Schulen sei digitales Arbeiten für alle unmöglich. „Zwar tut sich was. Aber es ist unglaublich zäh.“ Heißt an Binders Schule zum Beispiel: Zwar hätten dort inzwischen alle Lehrer Tablets – „nur laufen auf denen nicht die Programme, die ich nutzen will“.
Es gebe keine Schulungen, keine Wartung, das erzählen auf der Friedrichstraße auch andere Kollegen. Die meisten nutzten deshalb ihre Privatrechner, Binder selbst sei das aus datenschutzrechtlichen Gründen zu heikel.
Schulbauoffensive: Warum nicht in den Ferien?
Es gäbe also viel zu tun. Aber statt die Probleme anzupacken, so findet ein anderer Lehrer, verliere sich die Politik im Klein-Klein: Die neuen Vorgaben vom Senat für die Zeugnisse hätten ihn viel Zeit und Nerven gekostet: Die Zwischenzeugnisse mussten gendergerecht formuliert werden, heißt, Pronomen sind nicht mehr erlaubt. „Wir dürfen also kein er/sie benutzen, immer nur den Namen. Und damit der Stil nicht zu monoton wird, soll man dann auch mal Formulierungen einstreuen wie ‚Die Handschrift war …‘ Alle im Kollegium sagen: Was für ein Witz. Aber man kann dann sagen, dass man etwas gegen Ausgrenzung und für Inklusion getan hat.“
Nur sage es keiner laut. Wie überhaupt viele Streikende nicht ihren vollen Namen nennen wollen. Laut ist es den Streikenden nach dafür an vielen Schulen: Baustellen gebe es fast überall, sagen einige der Lehrer aus dem Demonstrationszug. Und die Idee von mehr und modernen Räumen ohne Schimmel oder andere Probleme ist auch eine Forderung der Gewerkschaft. Jahrelang seien die Gebäude kaputtgespart worden, sagt GEW-Sprecher Hanisch. Dabei gehe es durchaus voran, sagt der Gemeinschaftsschullehrer Johann Binder, es werde viel gebaut und renoviert.
Nur leider selten in den Ferien – auch und gerade im Handwerk fehlt ebenso das Personal. All der Staub und Lärm in der Schulzeit sei im Unterricht nicht gerade förderlich. „Und wenn im Hof Starkstromkabel über den Hof laufen, ist das nicht unbedingt kindgerecht.“