Der letzte Tango in Berlin: Wie die Gentrifizierung die Tanzszene erreicht
Berlin - Zuerst war es nur ein Gerücht, dass das Tangoloft seine Räume in der Weddinger Gerichtstraße verliert. Inzwischen gibt es die Bestätigung aus berufenem Munde: „Unser Mietvertrag wird nicht verlängert“, schrieb Mona Isabelle Schröter, die Chefin des Tangolofts, auf Facebook.
Steht damit die größte und für viele wichtigste Institution der Berliner Tangoszene vor dem Aus? „Nein“, sagt die temperamentvolle Unternehmerin, „wir machen weiter.“ Schließlich sei das Loft schon einmal unfreiwillig umgezogen und danach umso schöner wieder erstanden. Aber wohin das neue Loft ziehen wird, kann sie im Gespräch mit der Berliner Zeitung noch nicht sagen.
Berlin ist ein internationaler Hotspot des Tango-Argentino. Seine „europäische Hauptstadt“ lässt sich die hiesige Szene gern nennen. Der Stadtplaner Arnold Voss sieht sie in einer „unaufhaltsamen Aufwärtsspirale“ begriffen. Die Stadt sei „als soziales und künstlerisches Ganzes zum nationalen und internationalen Magneten aufgestiegen“, schreibt der begeisterte Tänzer in der aktuellen Ausgabe der Tangodanza, der einzigen Zeitschrift in Deutschland, die sich nur dem Tango widmet.
Die Gentrifizierung hat den Tango erreicht
Dabei zeichne die Berliner Tango-Szene gegenüber anderen deutschen Städten eine Besonderheit aus, meint Voss. Normalerweise dominiert im Tango die Generation 40 plus. Hier gebe es dagegen eine „immer größer werdende Alterskohorte zwischen 20 und 30“.
2019 jährt sich zum 25. Mal Berlins Partnerschaft mit Buenos Aires – jener Metropole am Rio de la Plata, wo der erotischste und geheimnisvollste Tanz der Welt vor mehr als einem Jahrhundert entstanden ist – in einer Community von Einwanderern aus aller Welt. Nicht zuletzt diese Prägung durch Zuwanderer ist es, die beide Städte verbindet.
Buenos Aires erlebt in diesen Tagen einmal mehr eine wirtschaftliche und finanzielle Krise. Klaus Wowereits berühmtes Bonmot aufnehmend, sagt Uwe Mohn, der Leiter des dortigen Goethe-Instituts: „Arm, aber sexy, das passt auch zu Buenos Aires.“ Berlin dagegen leidet gerade eher unter seinem Boom. Im Jubiläumsjahr der Städte-Partnerschaft breitet sich deshalb Unsicherheit in der hiesigen Tango-Szene aus.
Denn die Gentrifizierung hat den Tango erreicht. Vorbei die Zeiten, da die Tänzerinnen und Tänzer sicher sein konnten, für vergleichsweise kleines Geld unbeschwert in einer ehemaligen Industrie-Etage oder anderen bröckelnden Immobilie ihrer Leidenschaft zu frönen. Das Tangoloft etwa misst mit Nebenräumen großzügige 700 Quadratmeter.
Mietverträge laufen auch anderswo bald aus oder wurden gekündigt. Betreiber verhandeln mit ihren Vermietern über neue Vertragskonditionen. Nur eins ist sicher: Teurer wird es auf jeden Fall.
Die Eintrittspreise ziehen bereits an. Statt fünf Euro bis 5,50 Euro sind immer öfter sieben, gelegentlich sogar zehn zu zahlen. Da löst es in der gesamten Szene Erleichterung aus, wenn das Noutango, eine der drei großen Tangoschulen, bekannt gibt: „Wir wurden verlängert.“ Ein Umstand, der früher nie ein Thema war.
Deutsche Bahn erkannte Tango als Image-Faktor
Die Phonstärke einer „Milonga“, wie die Tango-Veranstaltungen heißen, ist mit der einer Technoparty nicht im entferntesten vergleichbar. Doch die gegenwärtige Entwicklung erinnert durchaus an den Beginn des viel zitierten „Clubsterbens“ in der Techno-Szene. Denn wohlbetuchte Erwerber veredelter Industrieimmobilien möchten am liebsten ländliche Ruhe mitten in der Stadt.
So war etwa der Tango unter freiem Himmel im Monbijou-Park in diesem Jahr nur noch unter strengen akustischen und zeitlichen Auflagen möglich gewesen. Wie es 2020 wird? Eine offene Frage.
Michael Rühl, der seit Jahren am Ufer der Spree für traditionelle Tangomusik sorgt, fühlt sich vom Senat und Bezirk im Stich gelassen. „Ich versteh’s nicht“, sagt der Mann, der zu den wichtigen deutschen Tango-DJs zählt. „Die sollen doch froh sein, über eine Attraktion nicht nur für Tänzer, sondern für die Touristen. Die bleiben stehen, staunen und erzählen zum Smartphone-Foto zu Hause, was sie Tolles in Berlin gesehen haben.“
Eine anderweitig viel gescholtene Institution hat dagegen den Tango als Image-Faktor erkannt: die Deutsche Bahn. Seit einigen Jahren beherbergt sie im Berliner Hauptbahnhof das Contemporary Tangofestival (CTF), zu dessen Veranstaltern Mona Isabelle Schröter gehört. Fünf Tage im August sind hier bis tief in die Nacht die verschiedensten und zum Teil schrägsten Varianten des Tango zu hören und zu sehen.
Viele Reisenden reagieren erst einmal irritiert, wenn ihnen am Fuß der Rolltreppe vom Bahnsteig plötzlich ein Tanzpaar mit raumgreifenden Beinbewegungen entgegenkommt. Die meisten aber bleiben kurz oder auch länger stehen, lauschen im Bahnhofslärm auf die Musik und machen interessierte Miene zum fremdartigen Spiel. Die Werbegemeinschaft der Bahnhofkaufleute finanziert das Spektakel.
Ein wenig seltsam mutet der Tango anfangs sogar Menschen an, die sich bereits länger dem Paartanz verschrieben haben. Sabine Harms etwa kann sich noch gut erinnern, wie sie vor Jahren nach ihrem Standard- und Latein-Kurs zum ersten Mal den Tango-Paaren zugeschaut hat, die in derselben Tanzschule geübt haben.
Tango: Die Oberkörper scheinen aneinander zu kleben
„Ich war fasziniert“, sagt die Ärztin aus Wilmersdorf. Da war diese einerseits rhythmische, andererseits wehmütige Musik, dazu Bewegungsmuster, die sie nicht kannte, Männer und Frauen, die im Paar unterschiedliche Schritte tanzten ... „Das hat mich hineingezogen.“
Anders als die meisten Tänzerinnen und Tänzer, die einmal beim Tango angekommen sind, geht Sabine Harms allerdings weiter zum Ballroom-Dancing, seit einer Zeit obendrein zum Swing.
Diesen vorwiegend fröhlichen und den eher melancholischen Tanz verbindet eine nur auf den ersten Blick erstaunliche Gemeinsamkeit: Beide werden zum überwiegenden Teil improvisiert. In den Standard- und Latein-Tänzen lernen die Akteure in aller Regel vorgegebene Schrittfolgen, die sich über mehrere Takte erstrecken. Außerdem gibt die Musik ein bestimmtes Tempo vor.
Anders im Tango, jedenfalls soweit die Tänzer über das Anfänger-Stadium hinausgekommen sind. Da entscheiden sie, ob sie der brummelnden Stimme des Bandoneons folgen oder den Geigen, ob sie auf jeden Taktschlag einen Schritt setzen, nur auf jeden zweiten oder ob sie ihr Tempo sogar verdoppeln wollen. Das führt zu dem erstaunlichen Effekt, dass jedes Paar etwas anderes tanzt. Und dennoch beziehen sich alle auf dasselbe Musikstück. Das lässt die Laien rätseln.
Nicht zu vergessen ein Punkt, der Zuschauer besonders fesselt, die noch nichts mit dem Tango zu tun hatten: die Tanzhaltung. In den meisten Tango-Shows, die auf der Bühne oder in Film und TV zu sehen sind, schauen die Profi-Paare einander glutäugig an und vollführen dazu ziemlich akrobatische Bewegungen.
Die Tänzerinnen und Tänzer in den normalen Locations gehen meist anders miteinander um. Inniger. Die Oberkörper scheinen aneinander zu kleben. Wangen liegen an Wangen. Bewegung ist vor allem in den Beinen zu sehen. Sie umspielen einander; manchmal gibt es kleine Hakeleien. Diese Beobachtung gibt dem berühmten Vorurteil Nahrung, Tango sei die vertikale Sublimierung dessen, was zwei Menschen in der Horizontalen treiben möchten.
Rund 130 Euro pro Monat für Tango-Unterricht
Da kann der Autor dieses Textes aus mehr als einem Jahrzehnt Tango-Erfahrung Entwarnung geben: Tango ist nicht Sex-affiner als jeder andere Paartanz – nur komplizierter. Im übrigen ist er – wie der Swing – als „social dance“ organisiert. Damit Paare nicht einen ganzen Abend lang aneinander kleben, gibt es ein paar „Codigos“, also Regeln. Bei der Durchsetzung dieser Regeln hilft schon die Organisation einer Milonga in sogenannten Tandas. Das sind Einheiten aus drei bis vier Liedern, verstummt das Tango-Orchester anschließend, trennen sich die Paare. Damit das auch niemand vergisst, signalisiert eine „Cortina“ (Vorhang), dass die nächste (Tanz-)Partnersuche angesagt ist.
Wie viele Menschen tanzen Tango in Berlin? Das ist schwerer zu sagen als bei anderen Tänzen, da die Zusammenhänge in den Schulen und Kursen weniger verbindlich sind als anderswo. Es gibt auch keine Erhebungen über die Teilnahme an den Milongas. Zudem ziehen die Berliner Tango-Veranstaltungen jede Menge Touristen an. Je nach Quelle beläuft sich die Zahl der Fans, die halbwegs regelmäßig eine Milonga besuchen, auf zwischen 2000 und 5000.
Zuverlässiger lässt sich dagegen schätzen, was ein engagierter Tangotänzer oder eine Tangotänzerin für ihr Vergnügen pro Monat aufwendet. Die Bloggerin Laura Knight („Berlintangovibes“) kalkuliert rund 130 Euro im Monat für Unterricht, einschließlich Solo-Lektionen und bis zu drei Milongas pro Woche. Tango-Reisen nicht eingerechnet – von den schönen bunten Schuhen mit mindestens acht Zentimetern Absatz ganz zu schweigen. Die Preise der begehrten Marken beginnen für Damen bei rund 140 Euro pro Paar. Der Zahl ihrer Anschaffungen sind keine Grenzen gesetzt.
Der finanzielle Aufwand lässt etliche Tango-Fans Prioritäten setzen: Sie bringen heimlich ihre Getränke in die heimischen Milongas mit – was sie als Gäste ökonomisch nicht gerade attraktiver macht.
Die Zeitschrift Tangodanza und die sozialen Medien sind allerdings voll von Angeboten für Tango-Urlaube an den schönsten Orten der Welt (nicht nur Berlin), in denen die Freaks den Alltag ausblenden und sich der für sie schönsten Nebensache der Welt widmen können.
Berliner bei der Tango-WM in Argentinien
Für „Marathons“ oder anmeldepflichtige „Encuentros“, also Begegnungen mit Tangueros und Tangueras auf gleicher Niveau-Stufe, fahren die „Intensivtäter“ unter ihnen Hunderte von Kilometer auch an äußerlich weniger attraktive Orte, um für ein verlängertes Wochenende sechs, acht, zehn Stunden Tango-Schichten pro Tag im Akkord zu schrubben. Bis zur glücklichen Erschöpfung.
Und selbstverständlich müssen Tango-Verrückte, die etwas auf sich halten, mindestens einmal im Leben ins Mekka ihres Tanzes gepilgert sein: nach Buenos-Aires. 12.000 Flugkilometer hin, 12.000 Flugkilometer zurück. Da erscheint Laura Knights Kalkulation nur als der allerunterste Mindestbetrag.
Als im August in Argentiens Hauptstadt die Tango-WM ausgetragen wurde, da waren auch Berliner mit von der Partie: Sophia Paul und ihr Freund und Tanzpartner Julio Cesar Calderon erreichten Platz 15 – und waren damit das beste westeuropäische Paar.
Kenner der Szene wie der deutsche Tango-Star Nicole Nau, die gerade mit ihrem Mann Luis Pereyra auf Deutschlandtournee ist, behaupten, dass der Tango in Buenos Aires ohne den internationalen Tanz-Tourismus längst nicht mehr lebensfähig wäre. Umgekehrt verdienen die meisten argentinischen Profis einen großen, wenn nicht den wichtigsten Teil ihres Einkommens im Ausland. Auch und gerade in Berlin wächst die argentinische Gemeinde und bestimmt einen Teil des Tango-Business in den Schulen und Milongas.
Zu den mindestens Teilzeit-Berlinern zählt auch der Bandoneonist Carlos Libedinsky. Als Mastermind der Gruppe „Narcotango“ hat er vor Jahren gemeinsam mit „Gotan Project“ und „Otros Aires“ den Electrotango kreiert und in die Clubs jenseits der engeren Tangoszene exportiert.
Aber der Musiker ist nicht nur ein besessener Soundtüftler, sondern auch ein begabter Showman. Beim Contemporary Tango Festival ging er auf offener Bühne in die Knie und machte seiner Mona Isabelle einen Heiratsantrag. Die Chefin des Tangolofts hat „Ja“ gesagt. Jetzt muss es nur noch mit dem Vermieter klappen.