Berlin-Als Matthias Vernaldi ein Kind war, sagten die Ärzte, er würde jung sterben. Die spinale Muskelatrophie, eine fortschreitende Muskelerkrankung, würde ihm höchstens zwanzig Jahre Leben lassen. Als Neunzehnjähriger gründete Matthias mit Studierenden eine Landkommune von Menschen mit und ohne Behinderung, die erste ihrer Art in der DDR. 1994 zog er nach Neukölln.

Ich lernte Matthias Anfang der 2000er als feste Instanz eines überschaubaren Lesebühnenpublikums kennen. Sein Assistent Stefan Weise sang zur Gitarre, ich las Texte, Matthias saß im Rollstuhl hinten in der verrauchten Wirtschaft Baiz, wo man den Zigarettenqualm in Scheiben schneiden und zu neuen Kippen hätte drehen können und lachte lautlos über die dreckigsten Witze.
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Penibel jede Bohne gezählt
Jahre später lud er mich mal zum Essen und Champagnertrinken in seine Neuköllner Wohnung ein, weil das mit den verrauchten Kneipen nicht mehr ging. Die Lunge machte nicht mehr mit.
Matthias' Assistenten bedeuteten für ihn Selbstbestimmung. Penibel zählte er selbst jede Bohne einzeln in den Topf. Er war der Chef. Als in den Neunzigern die gesetzliche Pflegeversicherung eingeführt wurde, entwickelte Matthias mit anderen Betroffenen den Leistungskomplex 32, der seither im Gesetz steht und ihm die Möglichkeit gab, im April 2000 eine eigene Firma „Matthias Vernaldi“ zu gründen, mit zuletzt bis zu zehn angestellten Assistenten, die ihn rund um die Uhr versorgten.
Matthias Vernaldi organisierte Demonstrationen
Stefan bewarb sich als Student für Germanistik und Philosophie. In Thüringen hatte er als Prediger gearbeitet, die Ordination wurde ihm von der Landeskirche verweigert, er könne ja nicht mal die Hände zum Segnen heben.
Seit 2002 saß Matthias im Landesbeirat für Menschen mit Behinderungen in Berlin und in vielen anderen politischen Gremien. Er organisierte Demonstrationen, gründete die Satirezeitschrift „Mondkalb – Zeitschrift für das organisierte Gebrechen“, sowie die Initiative „Sexybilities“, eine Beratungsstelle, die auch sexuelle Dienstleistungen für behinderte Menschen vermittelte.
Die Zeit war knapp
„Zum Schluss arbeitete er wie manisch“, erzählt Stefan. „Er konnte keine Minute mehr still sitzen.“ Trotz der Schmerzen, trotz der künstlichen Lunge hetzte Matthias von einem Termin zum nächsten und schlief dann oft bei den Sitzungen ein, weil das Losgehen für ihn schon drei Stunden dauerte. Matthias’ Zeit war knapp, es gab noch so viel zu tun.
Am 9. März ist Matthias Vernaldi als Sechzigjähriger in seiner Wohnung in Neukölln gestorben.