Die Angst der anderen

Wovor sich die einzelnen Leute so fürchten, ist höchst unterschiedlich. Vor Unfällen, Viren oder unbeaufsichtigten Koffern. Ein paar Beobachtungen aus Berlin.

In einer anderen Zeit könnte ein solcher Koffer am Wegesrand für einen Polizeieinsatz sorgen.
In einer anderen Zeit könnte ein solcher Koffer am Wegesrand für einen Polizeieinsatz sorgen.Berliner Zeitung/Jens Blankennagel

Berlin-Gleich hinter dem Ring-Center kam er um die Ecke gerast, als wäre er auf der Flucht: ein junger Mann, vielleicht 25 Jahre alt, auf einem Rennrad. Er war so schnell, dass nur seine leuchtgrüne FFP2-Maske auffiel. Ich sprang zur Seite, schaute ihm hinterher und dachte: Was muss der für eine Angst haben, dass er sogar auf dem Rad eine Maske trägt.

Unter dem weiten Berliner Himmel fürchte ich mich nicht vor den Viren, die die Frankfurter Allee entlang geweht werden, sondern eher davor, dass mich ein Raser auf dem Fußweg umbrettert. Der Radfahrer hätte vielleicht gesagt: „Sie müssen doch keine Angst haben. Ich passe schon auf.“

Grundsätzlich verbietet es sich eigentlich, sich über die Ängste von anderen lustig zu machen. Ängste gehören nun mal zu den dominanten Gefühlen, die sich in den Vordergrund drängeln und die sich fast nie durch rationale Argumente einfangen lassen. Und so hatten wir beide in derselben Sekunde höchst unterschiedliche Ängste: er vor den Viren und ich vor ihm.

Interessant ist auch, vor welchen Dingen wir als Gesellschaft so Angst haben. Vor ein paar Tagen lag ein blauer Koffer auf dem Fußweg. Herrenlos oder unbeaufsichtigt – wie es inzwischen heißt. Er störte niemanden. Ganz anders wäre es gewesen, wenn irgendwo ein paar Extremisten einen Anschlag verübt hätten. Dann hätte sicher jemand die Polizei gerufen. So aber blieb der Koffer unbeachtet. Am nächsten Tag trat ich dagegen, merkte, dass er leer war und warf ihn in eine Mülltonne.

Gestern war ich bei einem Freund ganz weit am Rand von Berlin. Spät abends auf dem Rückweg standen sechs Leute auf dem Bahnsteig verteilt: Niemand trug Maske. Sie setzten sie aber auf, als sie in die Bahn stiegen. Als sie sahen, dass die nächsten Fahrgäste zwei Waggons entfernt saßen, nahmen sie die Masken ab. Aber sie schauten sich ab und zu um – aus Angst vor einer Maskenkontrolle.

Oder vorhin auf dem Spielplatz: Ein Mädchen kletterte selbstbewusst und flink auf ein Gestell. In luftiger Höhe, weit über dem Kopf ihrer Mutter, stand sie schwankend auf einem Balken. Die Mutter lief zu ihr, hielt ihr die Arme entgegen und sagte mit ängstlicher Stimme: „Spring!“ Das Kind sagt: „Aber ich habe Angst.“

Sie sprangt und jauchzte vor Freude. Kaum hatte die Mutter sie aufgefangen, kletterte das Kind schon wieder in die Höhe.