Die Berliner Wahl am Sonntag ist eine echte bundesweite Premiere
Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik muss eine komplette Landtagswahl wiederholt werden. Nun geht die Angst um, dass die Wahlbeteiligung sinkt.

Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie längst verboten. Dieses Zitat wird dem großen Kurt Tucholsky zugeschrieben – und es ist in den Tagen vor der Wiederholungswahl in Berlin ähnlich oft zu hören wie der Satz: „Ich weiß nicht, wen ich wählen soll.“
Beide Sätze stimmen durchaus, und stimmen auch nicht ganz. Wahlen ändern durchaus etwas. Das wissen all jene Ostdeutschen, die das „Zettelfalten“ in der DDR erlebt haben – und dann die erste freie Wahl in der DDR am 18. März 1990 mit einem überraschenden Sieg der CDU. Auch heute ist es in der Weltpolitik ein Unterschied, ob Donald Trump regiert oder nicht. Und in der Lokalpolitik spielt beim Streit um die Abschaffung von Autoparkplätzen eine Rolle, ob die Fahrrad-Partei der Grünen in Kreuzberg viermal so viele Sitze im Bezirksparlament hat wie die Auto-Partei CDU.
Wahlen sind wichtig, zumindest sollten sie es in Demokratien sein. Leider wurde die Sache beim letzten Mal nicht von allen Organisatoren so ernst genommen, wie es nötig gewesen wäre. Wenn jemand vor zwei Jahren gesagt hätte, dass es in der Bundesrepublik mal eine Wahl geben wird, die von einem Verfassungsgericht gekippt wird, hätte das kaum jemand geglaubt. Bei dieser Blamage bleibt nur ein positiver Aspekt: Die Wahl wurde nicht wegen des Vorwurfs des Wahlbetrugs gekippt, sondern wegen Schlamperei, Fahrlässigkeit und Ignoranz nach dem Motto: Das wird schon klappen; es hat ja immer irgendwie geklappt.
Das fast Unwichtigste bei dieser Wahl wird das Ergebnis sein, denn ein Ergebnis wird es definitiv geben. Das Wichtigste wird sein, dass Wahlen wieder ernst genommen werden. Deshalb sollten die Bürgerinnen und Bürger möglichst zahlreich an die Urnen treten.
Die meistbeobachtete Wahl seit 1989 in der DDR
Sie können am Sonntag immerhin an der ungewöhnlichsten Wahl teilnehmen, die es je in der Bundesrepublik gegeben hat. Eine echte Premiere. Denn bislang musste keine Wahl für ein Landesparlament komplett wiederholt werden. Auch das ist ein Argument für das Wählen.
Nun geht die Angst um, dass die Wahlbeteiligung massiv einbricht. Bei der Wahl 2021 lag sie bei 75,4 Prozent. Das ist bedenklich, denn die Gruppe der Nichtwähler war am Ende die stärkste Kraft und lag fast ein Prozent vor dem Wahlsieger SPD. Dazu kommt: Die Beteiligung war nur deshalb so hoch, weil parallel die Bundestagswahl stattfand. Früher waren die Werte ganz anders: Der Spitzenwert wurde 1958 mit 92,8 Prozent erreicht. Den Tiefpunkt erlebte Berlin im Jahr 2006 mit 58 Prozent. Dieser Niedergang entspricht einem Bundestrend. In Nordrhein-Westfalen gingen im Vorjahr nur 55 Prozent zur Wahl.
Für das Wählen-Gehen spricht auch, dass es nach dem Organisationsdesaster interessant ist, wie es dieses Mal läuft. Es wird sicher die meistbeobachtete Wahl seit der Kommunalwahl in der DDR 1989.
Mehr Argumente gefällig? Fast wäre es zu einer weiteren Premiere gekommen. Denn die OSZE sagte die Wahlbeobachtung erst kurz davor ab. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit überwacht nicht nur Wahlen, bei denen es Zweifel an der Organisation gibt, sie ist seit 2009 auch bei Bundestagswahlen vor Ort. Aber bislang noch nie bei einer Landtagswahl.
Ende die Ära Giffey nach nur 418 Tagen im Amt?
Außerdem ist es spannend, ob die CDU im bislang linken Berlin gewinnt und trotzdem nicht an die Macht kommt. Und ob Franziska Giffey, die bis zum Wahltag nur 418 Tage im Amt ist, ihren Posten verliert. Wer von den großen alten Parteien enttäuscht ist, kann sich auch kleine neue suchen, das Spektrum ist breit: von der Mieterpartei, über die Berg-Partei bis zur Partei für schulmedizinische Verjüngungsforschung, die für alle eine Pille will, damit wir 1000 Jahre leben. Mag absurd klingen, ist aber besser, als nicht wählen zu gehen. Alle Parteien haben mal klein angefangen.
All jene, die den Regierenden oder gar dem ganzen System kritisch gegenüberstehen, müssten erst recht zur Wahl gehen. Denn die schwächste Form des Protestes ist es, darauf zu verzichten. Wer nicht zur Wahl geht, macht es den Parteien leicht. Sie können weiterhin die Nichtwähler ignorieren. Denn auf dem Wahlzettel gibt es nun mal keine Kästchen zum Ankreuzen neben dem Wort „unzufrieden“.
Weitere Wahl-Gründe: Zweimal innerhalb von nicht ganz 17 Monaten zu wählen, hat einen Reiz. Selten war so klar zu beobachten, ob sich die Stimmung in der Stadt ändert. Außerdem: Wählen tut nicht weh und ist eigentlich nur alle vier Jahre nötig.
Dazu kommt: Das wahlkritische Tucholsky-Zitat stammt gar nicht von ihm. Jedenfalls haben selbst Fans keinen Beleg gefunden. Noch ein Argument fürs Wählen.