Die EU darf dem türkischen Präsidenten Erdogan nicht alles durchgehen lassen
Die türkischen Parlamentswahlen im vergangenen November gewann Ministerpräsident Ahmet Davutoglu triumphal, weil er Bürgern und Wirtschaft Stabilität versprach. Nur ein halbes Jahr später ist die Krise mit voller Wucht zurück. Der schwelende Führungsstreit im Land eskaliert, die Aktienkurse brechen ein, die Lira stürzt ab. Ausgerechnet am Tag seines größten Triumphes – der Empfehlung der EU-Kommission, dass Türken visafrei in den Schengen-Raum reisen dürfen – wurde Davutoglu von Präsident Recep Tayyip Erdogan im Handstreich entmachtet. Das zeigt die wahren Machtverhältnisse im Land.
Obwohl ihm die Verfassung strenge Fesseln anlegt, bestimmt Erdogan die politische Agenda. Seit seiner Wahl zum Präsidenten 2014 will er die Verfassung ändern, um ein autoritäres Präsidialsystem ohne demokratische Kontrolle zu installieren und damit seine Herrschaft auf Dauer zu sichern. Premier Davutoglu sollte als Befehlsempfänger dieses Ziel im Parlament erreichen. Doch er fand zunehmend Lust am Regieren und versuchte, sich eine eigene Hausmacht in der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP zu schaffen, stets misstrauisch beäugt vom Präsidenten. Die Kritik der Erdoganisten an Davutoglu wuchs, als er bei der Verfassungsreform versagte. Sie verschärfte sich extrem, als klar wurde, dass die EU die Visaliberalisierung akzeptieren würde – ein Trumpf bei den Wählern, den sich Davutoglu und nicht Erdogan gut schreiben kann.
Jetzt handelte der Präsident. Der angekündigte außerordentliche Parteikongress ist sein Mittel, um die Abweichler zu disziplinieren, denn wie stets wird es niemand dort wagen aufzubegehren. Alles Weitere haben AKP-nahe Medien schon vorgezeichnet: Einsetzung eines Pro-forma-Premiers, Neuwahlen im Herbst, Sieg der AKP mit verfassungsändernder Mehrheit, Präsidialsystem. Es ist ein guter Zeitpunkt, denn die kleineren Parlamentsparteien sind geschwächt und könnten an der Zehnprozenthürde scheitern. Die Lektion für Europa heißt: In der Türkei hat nur einer das Sagen, egal, mit wem man spricht. Meint es die EU ernst mit den demokratischen Standards als Vorbedingung für die Visafreiheit, kann sie sich nicht mehr davor drücken, mit dem Mann Klartext zu reden, der wirklich in Ankara herrscht: Recep Tayyip Erdogan.