Berliner Behörden: „Die Sachbearbeiterin warf mir die Papiere ins Gesicht“

Manche Menschen zahlen 20 Euro für ein Treffen mit Cetin Sahin. Er weiß, wie es in Berliner Ämtern zugeht. Vor allem, wenn man keinen deutschen Namen hat.

Cetin Sahin (51) unterstützt migrantische Berliner beim Umgang mit Behörden.
Cetin Sahin (51) unterstützt migrantische Berliner beim Umgang mit Behörden.Sabine Gudath

Berlin-In Cetin Sahins Büro kommen Menschen, die im Jobcenter, im Bezirksamt oder im Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten nicht weiterkommen. Grund sind laut dem Berater vom Migrationssozialdienst der Arbeiterwohlfahrt (AWO) vor allem mangelnde Sprachkenntnisse und eine Abstumpfung wegen zu häufiger Diskriminierungserfahrungen. Ein Blick hinter die Kulissen der Ämter zeigt, wo die größten Probleme liegen. Eines der Hauptprobleme: Die Behörden spiegeln unsere Gesellschaft nicht wider.

Herr Sahin, Sie beraten täglich Menschen, die Probleme mit Berliner Behörden haben. Was sind die häufigsten Probleme, die Ihnen berichtet werden?

Es kommt immer wieder vor, dass Mitarbeitende sagen, die Antragsteller:innen könnten nicht ausreichend Deutsch und eine Übersetzung sei nicht möglich. Das ist rechtswidrig. Sehr viele Leute aus Bulgarien, Rumänien und der Türkei kommen zu mir. Ich erlebe immer wieder, dass die Unterlagen vom Jobcenter mehrfach angefordert werden. Obwohl wir die Faxbestätigung haben oder sie per Einschreiben geschickt wurden. Am Ende versagen sie den Antragsteller:innen die Leistungen, dann muss man Widerspruch einlegen.

Wenn alle Unterlagen vollständig sind, muss nach 20 Tagen eine Antwort kommen. Oft schicken sie in letzter Minute einen Brief, dass etwas fehlt. Dann verlängert sich die Frist. Wenn drei Monate lang nichts passiert, kann man wegen Untätigkeit klagen. Viele machen das nicht, weil sie Angst haben. Es gibt sehr viele verschiedene Arten des Ausschlusses und der Diskriminierung von sozialen Gruppen.

Was wissen denn viele Menschen nicht, die zu Ihnen kommen?

EU-Bürger:innen, die nach Deutschland kommen, dürfen arbeiten. Die meisten arbeiten auch, aber das Geld reicht nicht. Sie sind geringfügig beschäftigt. Arbeitgeber:innen beuten die Menschen auch oft aus. Meistens kennen die Leute ihre Rechte nicht, sprechen kein Deutsch oder sind Analphabeten. Das Problem ist, dass Menschen aus Bulgarien auch von den Arbeitgeber:innen und Vermieter:innen oft ausgebeutet werden, weil sie die Gesetze nicht kennen und nicht qualifiziert sind. Das ist Alltag. Bei jeder Kleinigkeit werden sie ausgenommen.

„Das Jobcenter erklärt ihnen nicht, welche Rechte sie haben“

Da ist also ein Markt für diese Menschen entstanden? 

Manchmal haben Übersetzer:innen nicht einmal Grundschulkenntnisse und nehmen Geld dafür. Einmal hat mir jemand erzählt, dass er für meine Visitenkarte 20 Euro bezahlen musste. Viele kommen zu mir und fragen, wie viel sie bezahlen müssen. Wenn wir sagen, dass wir das kostenlos machen, sind sie erst mal sprachlos. Von der behördlichen Seite bekommen sie die Informationen nicht.

Ist dafür nicht das Jobcenter zuständig? 

Das Jobcenter erklärt ihnen nicht, welche Rechte sie haben. Meistens müssen sie sich das Wissen mit sehr viel Mühe oder Glück aneignen, zum Beispiel, dass sie Kindergeld bekommen. Es werden Dokumente verlangt, die sie von anderen nicht verlangen. Zum Beispiel eine Wohnungsgeberbescheinigung. Am Ende bekommen sie die Leistungen, aber es ist eine riesige Hürde im Vergleich zu anderen Gruppen.

„Es ist kein ethnisches, sondern ein soziales Problem“

Von welchen Gruppen sprechen Sie?

Es gibt eine „gute“ und „schlechte“ Migration. Spanien, Frankreich, Italien, damit können sich viele identifizieren. Arabisch, bulgarisch oder türkisch – da hat man ganz andere Bilder im Kopf. Roma und Sinti sind noch stärker betroffen. Es gab ein internes Papier von der Bundesagentur für Arbeit, das dann doch veröffentlicht wurde. „Bekämpfung von bandenmäßigem Leistungsmissbrauch im Zusammenhang mit der EU-Freizügigkeit.“ Bulgarien und Rumänien wurden ausdrücklich als Herkunftsländer genannt. Das stellt alle unter Generalverdacht. So etwas gibt es in jeder Gesellschaft, es ist kein ethnisches, sondern ein soziales Problem. Es wird immer jemanden geben, der das System ausnutzt.

Die Menschen aus Bulgarien sind Sinti und Roma?

Nicht alle, aber ja. Da gibt es sehr große Vorbehalte und eine sehr große Diskriminierungserfahrung. Nicht nur vonseiten des Jobcenters, sondern wirklich von allen. Ich habe mal für eine Familie bei einer großen städtischen Wohnungsbaugesellschaft angerufen. Sie hatten einen Wohnberechtigungsschein mit dringendem Wohnbedarf, da gibt es verschiedene Abstufungen. Bei der Terminvereinbarung habe ich den Namen genannt, dann hieß es „Ach so“. Beim Termin behauptete die Mitarbeiterin dann, dass die Wohnungen in der Größe alle wegen Asbest saniert würden. Einen schriftlichen Nachweis dafür könne sie mir nicht geben und auch nicht die Erlaubnis, die Aussage aufzuzeichnen. Ich habe vorgeschlagen, rechtlich dagegen vorzugehen, aber die Familie wollte das nicht.

Warum nicht?

Oft haben Betroffene schlechte Erfahrungen gemacht. Durch ihr ganzes Leben zieht sich die Diskriminierung. Manchmal ist es sogar schwer, ihnen zu erklären, dass etwas diskriminierend ist, weil sie so sehr daran gewöhnt sind, dass es für sie normal ist. Ich kann sie leider nicht dazu zwingen, gerichtlich dagegen vorzugehen. Sie haben Angst vor Repressalien. Sie denken, dass sie der Vermieter dann kündigen wird oder das Jobcenter keine Leistungen mehr bezahlt.

„Es wird nicht lange dauern, bis die Leute aus der Ukraine zu mir kommen“

Welche Erlebnisse haben Menschen aus der Ukraine zu berichten?

Das kann ich nicht genau sagen. Zu mir kommen noch überwiegend Menschen, die mehr als drei Jahre in Deutschland leben. Es wird nicht lange dauern, bis die Leute aus der Ukraine dann auch zu mir kommen. Bestimmte Dinge scheinen schneller vorangetrieben zu werden, das hätte man auch vorher machen können, auch für alle anderen, die zu uns kommen.

Gibt es Fälle, die Ihnen nicht mehr aus dem Kopf gehen?

Wir hatten eine Familie, die in einen neuen Bezirk gezogen ist. Sie mussten sich beim Jobcenter also komplett neu anmelden, als wären sie zum ersten Mal dort. Die Akten werden nicht elektronisch weitergeleitet. Die Familie ist vom Heim in Schöneberg in eine Wohnung gezogen, die unter der Hand vermittelt wurde. Die Vermieter sind meistens abgeschreckt, deshalb nehmen Geflüchtete das Möbelausstattungsgeld und bezahlen jemanden für die Vermittlung. Und das neben den Kautionskosten. Sie haben das Geld zusammengekratzt, aber nach viereinhalb Monaten war der Antrag immer noch nicht durch, obwohl sie alle Unterlagen ans Jobcenter geschickt haben.

„Die Leute berichten von Anschreien und Beleidigungen“

Sie sind dann also selbst ins Jobcenter mitgefahren?

Wir haben dann gemeinsam in die Akte geschaut. Dort waren beide Mietverträge und der Arbeitsvertrag. Ich habe der Sachbearbeiterin gesagt, dass sie die ganze Geschichte so verzögere und ich in zehn Minuten die Zusage für die Leistungen haben oder mit der Teamleitung sprechen möchte. Dann bin ich raus, kurze Zeit später hat sie mir die Papiere ins Gesicht geschmissen und die Tür zugeknallt. Wenn sie jemanden, der Deutsch sprechen kann, schon so behandelt, möchte ich nicht wissen, wie sie unter vier Augen ist. Die Leute berichten von Anschreien und Beleidigungen. Sätze wie: „Ihr seid ja nur hier, um Gelder zu kassieren.“ Das kann man nur leider nicht beweisen.

Dass die Wohnung unter der Hand weitergegeben wird, ist dann kein Problem?

Doch, das hat die Familie mir im Vertrauen gesagt. Das ist illegal und wir raten normalerweise davon ab, weil sehr viele Leute so betrogen wurden. Sie können damit nicht zur Polizei, nirgendwohin. Wir sind dagegen, aber ich verstehe auch die Aussichtslosigkeit der Leute.

Falls die Mitarbeitenden im Jobcenter etwas falsch verstehen, könnten die dann Probleme bekommen?

„In einer Behörde bekommt man Beklemmungen, die Menschen sind wie Roboter“

Einmal habe ich einen Ratsuchenden zu einem Jobcenter begleitet. Am Eingang war ein Zettel, auf dem stand: Beratungen werden nur bei Deutschkenntnissen oder in Anwesenheit eines Dolmetschers durchgeführt. Das ist rechtswidrig. Man muss ja jedem helfen können. Das habe ich abfotografiert und einem Kollegen geschickt, der sehr gute Kontakte zur Gleichstellungskommission der EU hat. Die hat dann die Nürnberger Bundesagentur mit dem Bild angeschrieben. Das Jobcenter hat geantwortet, das sei irgendein Fehler, und hat den Zettel abgehängt.

Was wäre aus Ihrer Sicht eine Lösung?

Mehr Diversität. Die Behörden spiegeln die bunt gemischte Gesellschaft in Berlin nicht wieder. In einer Behörde bekommt man Beklemmungen, die Menschen sind wie Roboter. Ich sage nicht, gebt jedem Geld, aber die Menschen sollten ihre Angelegenheiten klären können. Das Jobcenter weiß ja aus Statistiken, wie viele Menschen aus den jeweiligen Ländern kommen. Dann könnte man zumindest telefonisch Dolmetscher*innen bereitstellen. Inzwischen sind manche Formulare in verschiedene Sprachen übersetzt, aber die Hauptanträge nicht. Manche können sprechen, aber nicht schreiben, dann müsste man das ausfüllen. So sind sie nicht abhängig von anderen, die sie ausbeuten. Sinti*zze und Rom*nja werden ja auch von ihren eigenen Landsleuten diskriminiert.