Die Straßen von Berlin sind wie ein Geschichtsbuch
In der Bernauer Straße stolpert man geradezu durch die deutsche Vergangenheit.

Die Bernauer Straße ist ein Geschichtsbuch. Das ist jedem Menschen bewusst, der sie schon einmal aufmerksam entlanggelaufen ist. Oder nur ein bisschen gelesen hat über die deutsche Geschichte. Doch senkt man den Blick, begreift man, dass die Historie nicht nur an offiziellen Orten eine Stimme bekommt. Immerzu stolpert man über Zeichen und Zeilen, Worte und Warnungen, Signale und Signaturen. Stolpert im buchstäblichen Sinne.
Zunächst prallt man gegen unsichtbar gewordene, vom Gang der Jahrzehnte und Ereignisse hinweggefegte oder besser: eingerissene Mauern. „Die Mauer“ sagt man, und jeder weiß Bescheid, dass keine Brandmauer, kein Gebäude gemeint sein kann.
Zu Boden blickend lerne ich den Begriff „Hinterlandmauer“, er klingt harmlos, doch weil er zu „der“ Mauer gehört, kann das nur Trug sein. Zumal ein zweiter in den Boden eingelassener Streifen aus den eben verstandenen kommentiert. „Signalzaun“, steht da und weil die Bernauer Straße ein asphaltgewordenes Warnsignal ist, ein rund 1,5 Kilometer langes „Vergesst nicht!“, denkt man beim Wort „Signal“ nicht an Ampeln und auch nicht an eine Schiffssirene.
Was und wen man nicht vergessen soll, davon berichten Plaketten, die von Fluchtversuchen erzählen. Sie nennen Namen, Anzahl der Personen. Sie erzählen von Not, Angst, Hoffnung. Sie lassen mich länger und intensiver innehalten als die vielen Informationstafeln in der Gegend, die Reihe rostroter Stangen, die Gedenkstätte Berliner Mauer. Das offizielle Erinnern und seine Räume sind so wichtig. Doch die Menschen hinter den großen Erzählungen treten mir im Kleinen entgegen.
Wie in den Stolpersteinen, denen die Plaketten ähneln, die einen quadratisch mit abgerundeten Ecken, die anderen kreisrund. Ich mag den Begriff „Stolpern“, auch wenn sie natürlich zu flach sind, um das Gleichmaß des Schrittes zu beeinflussen. Der Blick stolpert darüber, die Gedanken, aus dem Takt gebracht, gestört von etwas Wichtigerem.
Von der Vergangenheit, die in die Gegenwart hineinragt. Sie hat sich in den Boden eingeschrieben, unsichtbar und durch helfende Hände sichtbar. Freilich muss man hinsehen. Der Blick stolpert, anders als die Füße, nicht von allein. In diesem Fall, denke ich, muss mit gesenktem Haupt zu laufen, nicht Niedergeschlagenheit bedeuten. Es kann von Interesse künden, der geneigte Kopf von Demut. Und der freigelegte Nacken kann verstanden werden als ein ungewolltes Symbol für die Verletzlichkeit eines jeden Einzelnen.