Dilek Kolat zur Pflege: „Es muss mehr Geld im System ankommen“

Berlin hat ein neues Senatorenamt: Dilek Kolat ist nicht nur Gesundheits- und Gleichstellungs-, sondern auch Pflegesenatorin. Erstmals trägt ein Regierungsmitglied diese Zuständigkeit im Titel, und damit soll auch eine Aufwertung des Themas einhergehen.

Frau Kolat, Kitas werden in Berlin massiv ausgebaut. Bräuchte es nicht eine ähnliche Offensive für Pflegeplätze? Kinder, die Plätze für ihre Eltern suchen, erzählen ähnlich Dramatisches wie junge Väter und Mütter.

Es stimmt, Pflege geht uns alle an. 17 Prozent der Menschen in unserer Stadt haben Kinder – aber alle haben Eltern. Und wir beobachten, dass in einer Singlestadt wie Berlin immer häufiger auch Nachbarn oder Freunde einstehen für Menschen, die Hilfe brauchen. Pflege kann einen schneller betreffen als man denkt. Auch aufgrund einer Krankheit im jungen Alter beispielsweise. Rot-Rot-Grün packt dieses wichtige Zukunftsthema an und stellt die Weichen für eine Pflegeoffensive. Deshalb gibt es erstmalig eine Senatsverwaltung, die Pflege im Namen trägt. Und es geht nicht nur um den Namen, sondern wir bauen derzeit eine neue Abteilung Pflege auf, wo wir alle diesbezüglichen Themen zusammenfassen und Ressourcen neu ausbauen. So können wir die wichtigen Themen der Zukunft viel besser angehen.

Theoretisch ist die Versorgung in Berlin nicht schlecht – in der stationären Betreuung gibt es sogar ein Überangebot an Plätzen. Trotzdem finden viele Menschen nicht die Pflege, die sie suchen. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Ein Problem ist, dass vielen Menschen die Orientierung fehlt, insbesondere wenn sie mit Pflege vorher nichts zu tun hatten. Dafür haben wir bereits die 35 Pflegestützpunkte in der Stadt, die flächendeckend und kostenlos zu allen Fragen um die Pflege informieren, beraten und begleiten. Wir wollen sie stärken und noch besser sichtbar machen. Aktuell haben wir die Broschüre „Was ist, wenn...? 24 Fragen zum Thema häusliche Pflege“ herausgegeben, wo wir Ratsuchenden Orientierung geben. Im Internet ist die Broschüre in sieben Sprachen erhältlich. Der Bedarf an Information ist gestiegen, weil sich rechtlich auch einiges geändert hat. Ich will, dass jeder, der einen Leistungsanspruch hat, diese auch bekommt. Eine zentrale Frage ist aber auch, wie wir den Bedarf an Fachkräften sichern. Immer mehr Pflegedienste beklagen, dass sie keine Fachkräfte finden. Sie brauchen immer länger, um freie Stellen zu besetzen.

Was ist das Problem?

Der Pflegeberuf wird bei uns leider gesellschaftlich kaum gewürdigt. Die Ausbildungs- und Arbeitsbedingungen sind sehr hart, und die Bezahlung ist damit nicht im Einklang. Derzeit gibt es in dieser Berufsgruppe kaum Tarifbindung. Das muss sich ändern, um die Attraktivität des Berufes zu erhöhen. Das ist für die Stadt eine ganz wichtige Zukunftsfrage. Der Anteil der über 80-Jährigen wird bis 2030 um 62 Prozent steigen. Wir brauchen also in Zukunft viel mehr Fachkräfte, haben aber heute schon einen Mangel.

Sie könnten die Landesbetriebe stärken – wenn die mehr zahlen als die anderen Träger, gehen die Fachkräfte dorthin …

Die Landesunternehmen sind zwar wichtige Akteure, aber nicht die einzigen. Wir haben eine Trägervielfalt und die ist wichtig. Alle Arbeitgeber müssen mehr ausbilden, mehr für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung tun – es liegt ja auch in ihrem eigenen Interesse, wenn sie mittel- und langfristig weitermachen wollen. Mein Ziel ist es, Tarifverträge für die Altenpflege in Berlin zu haben, die allgemeinverbindlich sind. Nur das würde uns wirklich weiterbringen. Das ist eine Frage der Tarifautonomie, und alle Arbeitgeber müssen bereit sein, mitzumachen. Ich jedenfalls werde mich dafür stark machen.

In den nächsten fünf Jahren braucht Berlin rund 6000 neue Pflegekräfte, es werden bis dahin aber nur 3000 ausgebildet. Wie lässt sich mehr Nachwuchs gewinnen?

Es heißt immer, es sei schwer, Jugendliche für die Pflegeberufe zu gewinnen. Ich habe einen völlig anderen Eindruck. Viele Jugendliche sind sozial eingestellt und wollen in diesem Bereich auch arbeiten. Aber sie merken natürlich, wenn Arbeitsbedingungen und Bezahlung schlecht sind – und dann suchen sie sich etwas anderes. Die Ausbildung muss attraktiver werden, dann kommen auch die Mädchen und Jungen, die nach der Schule in die Berufsausbildung gehen. Sie dann im Beruf zu halten, ist die nächste Herausforderung. Die Verweildauer im Beruf ist nur acht Jahre. Das verschärft die Fachkräfteproblematik zusätzlich. Dafür muss jeder Arbeitgeber gute Arbeitsbedingungen schaffen und den Jugendlichen auch Aufstiegsperspektiven bieten. Wir haben zusätzlich viel Potenzial für die Fachkräfteentwicklung unter den Arbeitslosen und Zugewanderten.

Derzeit sind die Gehälter in der Altenpflege um 30 Prozent niedriger als in der Krankenpflege. Was wäre gerecht?

Ich werde jetzt keine Zielmarke nennen …

… schade.

Aber diese Diskrepanz muss weg. Beide Berufsfelder rücken auch inhaltlich näher zusammen. Meine große Hoffnung ist, dass die Bundesregierung endlich das Pflegeberufe-Reformgesetz verabschiedet. Dort geht es um eine generalisierte Ausbildung für alle Pflegeberufe. Das wäre eine Chance, endlich die Altenpflegeberufe aufzuwerten und die Durchlässigkeit zwischen Altenpflege, Kinderkrankenpflege und Krankenpflege zu ermöglichen. Im Vergleich sind die Gehälter im gesamten Gesundheitsbereich zu niedrig. Da muss mehr Geld insgesamt im System ankommen, das für Personal zur Verfügung steht. Die Arbeit an Maschinen wird in unserer Gesellschaft höher vergütet als die Arbeit mit Menschen. Das ist auch eine gesellschaftliche Debatte, die wir führen müssen. Hier brauchen wir einen Wandel. Ich glaube, mit Tarifverträgen können wir da viel erreichen. Natürlich ist dies nicht Aufgabe der Politik, wir haben ja Tarifautonomie. Aber diesen Impuls gebe ich gerne und werde dranbleiben. Sonst tut sich nichts.

Ein anderes Problem ist die sehr hohe Teilzeitquote. Würden mehr Mitarbeiter Vollzeit arbeiten, wäre der Fachkräftemangel weniger dramatisch. Wie bringt man sie dazu?

Auch hier gilt: Es geht um die Arbeitsbedingungen, und die Arbeitgeber sind in der Pflicht. Zum einen ist es anstrengende Arbeit, und viele Beschäftigte stoßen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Aber es hat auch etwas damit zu tun, dass sie sich nicht so entwickeln können, wie sie es wollen. Es gibt viele Pflegehilfskräfte, die nur eine sehr kurze Ausbildung haben, oft sind es auch Migranten. Sie brauchen bessere Möglichkeiten, sich weiter zu qualifizieren bis zur Fachkraft. Wir haben in der letzten Legislaturperiode ein Modellprojekt dazu begonnen. Ich hoffe sehr, dass es sich durchsetzt. Wir brauchen mehr Qualität und mehr Durchlässigkeit in der Ausbildung dieser Hilfskräfte, die auch anschlussfähig ist.

In den vergangenen Jahren sind viele Pflege-WGs entstanden. Aber es wird wegen des Wohnungsmarkts immer schwieriger, neue Angebote zu schaffen. Kann das Land helfen?

Die WGs haben sich stark entwickelt trotz des angespannten Wohnungsmarktes. Insbesondere für Menschen mit Migrationshintergrund sind sie eine gute Alternative. Die Wohnungsbaugesellschaften haben den Auftrag, mehr geeignete Räume zur Verfügung zu stellen. Für mich ist aber auch eine wichtige Frage: Was passiert eigentlich in diesen Wohnungen? Ist dort wirklich gute Pflege gewährleistet? Das wollen wir sicherstellen, und das ist ein Grund, weshalb wir die Heimaufsicht verstärken wollen.

Wie wird sie verstärkt?

Indem wir in den laufenden Haushaltsberatungen mehr Personal für die Heimaufsicht beim Landesamt für Gesundheit und Soziales angemeldet haben. Mit mehr Mitarbeitern können wir auch anlassunabhängige Stichproben machen. Derzeit kann die Heimaufsicht nur tätig werden, wenn eine konkrete Beschwerde eingeht. Das ist sehr selten der Fall.

Bisher ist Pflege eine Frauensache. Was kann man tun, damit die Verteilung zwischen den Geschlechtern gerechter wird?

Bessere Bedingungen und Bezahlung würden sicherlich auch dazu beitragen, dass sich auch mehr Männer für Pflegeberufe interessieren. Und es gibt eine andere Herausforderung: Es kommen selbst im Pflegebereich zu wenige Frauen in Führungspositionen. Ab einem gewissen Level finden Sie dort weniger Frauen. Auch das ist nicht gerecht.

Das Gespräch führte Frederik Bombosch.