Dirk Oschmann: „Westjournalisten denken, Björn Höcke sei ein Faschist aus Thüringen“

Der Bestsellerautor über den Erfolg seines Buches, seine Angst, sich als Ossi zu outen und die unglaubliche Unkenntnis westdeutscher Journalisten über den Osten.

Dirk Oschmann über den Dächern von Berlin
Dirk Oschmann über den Dächern von BerlinMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Dirk Oschmann kommt direkt aus Leipzig zum Interview in den Berliner Verlag am Alexanderplatz, ein höflicher Mann mit Brille und Mantel, dem man die Wut, die er sich in seiner Streitschrift „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ vom Leib geschrieben hat, keineswegs anmerkt. Er wirkt erstaunt über den Erfolg seines Buches, das vor drei Wochen erschien und sofort auf den Bestsellerlisten landete – und das eine Debatte anstieß über ostdeutsche Identität und die Frage, warum Menschen, die in der DDR geboren wurden, sich nicht trauen zu sagen, woher sie kommen. 

Oschmann, geboren in Gotha, Literaturprofessor in Leipzig, gehörte lange selbst zu diesen Menschen, verdrängte die „Niedertracht und Häme“, mit der der Westen auf den Osten blickt, die „radikale Umschreibung und Überschreibung von Geschichte“, die Verdammung der DDR-Literatur „in Bausch und Bogen“, wie er in seinem Buch schreibt. Im Interview kurz vor seiner Berliner Buchpremiere im Kesselhaus in der Kulturbrauerei spricht er darüber, wie durch eine Anfrage zu einem Vortrag plötzlich alles aus ihm herausbrach, was sich 30 Jahre lang in ihm angestaut hatte, was er bei Interviews im Westen erlebt und wie die Reaktionen auf sein Buch sind.

Wie geht es Ihnen, Herr Oschmann, drei Wochen nachdem Ihre Abrechnung mit dem Westen erschienen ist?

Das, was ich in meinem Buch beschrieben habe, erlebe ich jetzt an mir selbst. Ich habe versucht, die Mechanismen zu verstehen, habe die Fakten aufgeschrieben, die alle für sich sprechen, aber statt sich auf die Argumente einzulassen, wird häufig versucht, mein Buch zu diskreditieren.

Im Spiegel-Bild zu meinem Interview zeigt sich die ganze Niedertracht der Perspektive des Westens.

Dirk Oschmann, Autor des Buches „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“

Wer diskreditiert Ihr Buch?

Es kommt aus allen möglichen Ecken. Auf Amazon hat zum Beispiel jemand in die Rezensionen geschrieben: Typische Hetzschrift eines Jammerossis. In einem Chat hat mir jemand geraten, ich solle mich in die Psychiatrie einweisen lassen. Bei Interviews, die ich gegeben habe, bin ich Journalisten begegnet, die nicht wissen, dass Björn Höcke aus dem Westen kommt, sondern ihn für einen Thüringer Faschisten halten und die keine Ahnung hatten, dass Ostdeutsche auch Solidaritätszuschlag zahlen.

Wer waren diese Journalisten?

Westdeutsche Politikberichterstatter, die das alles eigentlich wissen sollten. Haben Sie gesehen, wie der Spiegel das Interview mit mir bebildert hat? Mit einem Foto von Arbeitern mit Vokuhila und Blaumann aus dem Jahr 1993! Als würde ich irgendwelche vergangenen Schlachten schlagen wollen.

Das Klischee des ostdeutschen Mannes!

Ja, ein schreckliches Bild, das man nur als eine Form westdeutschen Framings bezeichnen kann. Da zeigt sich die ganze Niedertracht der Perspektive des Westens, dass sie nicht bereit sind, sich 30 Jahre später auf neue Perspektiven einzulassen.

Menschen aus dem Osten schicken mir ihre Lebensläufe, Geschichten voller Traumata. Ich habe offenbar einen Nerv getroffen.

Dirk Oschmann, 55, Buchautor

Wie kommt Ihr Buch bei den Lesern an?

Ich bekomme sehr viel Post, sehr viele Mails. Man merkt, es kocht bei vielen Leuten. Menschen aus dem Osten schicken mir ihre Lebensläufe dazu, Geschichten voller Traumata. Ich habe offenbar einen Nerv getroffen.

Wie erklären Sie sich das, 32 Jahre nach der deutschen Einheit? In einer Zeit, in der es in Deutschland ganz andere Probleme gibt: Krieg in der Ukraine, Waffenlieferungen, Energiekrise? Und viele davon ausgingen, die Zeit der Aufarbeitung der Nachwendezeit sei vorbei?

Im privaten und akademischen Umfeld hatte ich das wachsende Interesse an dem Thema schon länger gespürt, vor allem in der Altersstufe, zu der ich selbst gehöre. Wir drehen uns um, sehen zurück, stellen fest, es war nicht alles prima. Und gerade bei Akademikern taucht die Frage auf: Wieso schaffen wir es nicht? Wieso kommen wir nicht rein in dieses System? Im letzten Jahr hatten wir an der Uni Leipzig zwei Professuren in der Anglistik ausgeschrieben, und es gab dafür nicht eine Bewerbung aus dem Osten, keine einzige Person mit ostdeutschem Hintergrund!

Woran liegt das?

Anfang der 90er gab es eine große Berufungswelle an den ostdeutschen Universitäten, einen Elitenwechsel, und das war richtig, um dieses Land zum Laufen zu bringen. Aber die Eliten aus dem Westen, Professoren, meist Männer, gut oder nicht gut, haben ihren eigenen Nachwuchs mitgebracht, Mitarbeiter, die dann entsprechend selbst wieder auf Professuren kommen konnten. Das ist ein sich selbst fortsetzendes System. Und es hat zur Folge, dass Nachwuchs aus dem Osten selten eine  Chance hat, auf solche Stellen zu kommen.

Aber Sie haben es geschafft, in diesem geschlossenen System Professor zu werden. Wie kam das?

Ich hatte mit meinem Doktorvater großes Glück. Der kam 1992 nach Jena, weil er den Osten interessanter fand. Er hat die Uni neu mit aufgebaut und mich als Doktoranden genommen. Er hatte ganz bewusst eine Stelle für jemanden aus dem Osten freigehalten. Die absolute Ausnahme! 20 Jahre später, bei der zweiten Berufungswelle 2010, wurden meist wieder nur Westdeutsche genommen.

Gab es einen Punkt, an dem Sie gemerkt haben: Hier stimmt was nicht?

Das erste Mal 2011, als frisch berufener Professor in Leipzig zwischen lauter Westdeutschen. Ein Kollege  fragte mich: Wie kommst du eigentlich im Osten zurecht?

Er ging davon aus, dass Sie Westdeutscher sind?

Genau.

Dirk Oschmann auf der Dachterrasse des Berliner Verlages.
Dirk Oschmann auf der Dachterrasse des Berliner Verlages.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Was haben Sie geantwortet?

Ganz ausgezeichnet, ich komme ja von hier. An dieses Gespräch musste ich oft denken, habe es aber immer wieder verdrängt. 2018 bekam ich dann erstmals die Anfrage, mich als Zeitzeuge zu Fragen der Wiedervereinigung zu  äußern. Da merkte ich, wie tief in mir etwas anklingt, wusste aber auch, wenn ich in diese Tiefen hinabsteige, geht es ans Eingemachte, ich schob es weg, vor mir her, wollte nicht mit diesen Dingen behelligt werden.

Warum nicht?

Weil es nicht leicht war, als Ostdeutscher überhaupt in so eine Position zu kommen, und ich wollte in Ruhe meiner Liebe zur Literatur nachgehen. Ein Journalist hat mich jetzt gefragt, warum ich mir das angetan habe.

Ihr Outing als Ostdeutscher?

Ja, warum ich mich aus meiner bequemen Position heraus in so eine Diskussion begebe, wo es hämisch, scharf und ungerecht zugeht. Und ja, mir ist klar, dass es so wirkt, als würde ich mich aus dem Nichts plötzlich zu diesem Thema äußern. Dass mein Buch überhaupt so wahrgenommen wird, liegt sicher am Ton.

Ihr Ton ist sehr wütend. War diese Wut immer da?

Sie muss dagewesen sein, so ein latenter Zorn und ein Unbehagen.

Ich habe am ganzen Körper gezittert, konnte nicht schlafen. Es ist alles aus mir herausgebrochen.

Dirk Oschmann, Buchautor

Und wie fühlte es sich an, das alles rauszulassen, alles aufzuschreiben?

Ich kann es gar nicht beschreiben. Als ich vor zwei Jahren den Vortrag schrieb, der zur Grundlage des Buches wurde, ist alles hochgekocht. Ich war tage- und wochenlang auf 180. Ich bin von Hause aus ohnehin cholerisch. Ich habe am ganzen Körper gezittert, konnte nicht schlafen. Es ist alles aus mir herausgebrochen. Ich habe den Text superschnell geschrieben und ihn verschiedenen Leuten zu lesen gegeben, zuerst meiner Frau, aber auch Freunden und einer  jungen Doktorandin aus dem Westen.

Was hat sie gesagt?

Dass sich das wie ein feministisches Manifest aus den 70ern liest. Genauso wollte ich es, in aller Schärfe. Ich dachte, das muss gesagt werden. Niemand interessiert sich in der Bundesregierung für diese Sachen. Und das Einzige, was ich zur Verfügung habe, ist Sprache. Als ich den Vortrag gehalten habe, in der Corona-Zeit, über Zoom, habe ich nach ein, zwei Minuten gemerkt, es ist das Richtige.

Wie waren die Reaktionen darauf?

Die Veranstalter haben geschluckt. Eine Kollegin aus dem Westen sagte, dann wäre ja jetzt mal der rosa Elefant im Raum angesprochen worden. Ein Freund von mir hat meinen Vortrag dem Schriftsteller Ingo Schulze geschickt, der hat gesagt: Das musst du unbedingt veröffentlichen. Meine Frau und ich überlegten: Wollen wir das? Beschädigt das nicht uns? Und die Kinder? Wir haben uns für die Veröffentlichung entschieden. Aus der Rede ist dann ein Zeitungsartikel entstanden und schließlich ein Buch.

Ich will mir wirklich nicht vorstellen müssen, dass meine Kinder mit begrenzten Aussichten ins Leben gehen, weil sie aus dem Osten kommen.

Dirk Oschmann, Vater von zwei Kindern

Hat es Ihre Familie beschädigt?

Eigentlich nicht. Bis auf die Reaktionen, die ich bereits beschrieben habe. Die schärfsten Kritiken standen in der SZ und der Zeit, westdeutsche Zeitungen, ostdeutsche Autoren, sehr viel jünger als ich. Ich frage mich, warum gerade die am kritischsten sind.

Und?

Ich habe keine wirkliche Erklärung. Vielleicht ist es so ähnlich wie beim Stockholm-Syndrom. Oder man will sich nicht eingestehen, dass es diese gläserne Decke gibt. Aber ich habe alle Zahlen und Studien auf meiner Seite. Ich habe sie nur zugespitzter interpretiert. Ich will mir wirklich nicht vorstellen müssen, dass meine Kinder mit begrenzten Aussichten ins Leben gehen, weil sie aus dem Osten kommen.

Wie alt sind Ihre Kinder?

Mein Sohn ist 16, meine Tochter 13. Aus deren Gymnasium bekomme ich gute Rückmeldungen, von Eltern und Großeltern. Meine Kinder werden gefragt, ob sie denn ihr Taschengeld noch bekommen.

Weil Sie in Ihrem Buch schreiben, Sie hätten Ihren Kindern gedroht, das Taschengeld zu streichen, wenn sie sächseln. Ist es nicht hart, die Kinder nicht sächseln zu lassen? Sind sie dann nicht Außenseiter an ihrer Schule?

Das war natürlich Spaß. Meine Kinder sächseln nicht. Auch bei meinen Studenten sächselt niemand mehr. Sie wachsen mit den Medien auf, hören nur hochdeutsch und bewegen sich gar nicht mehr in so einem geschlossenen Milieu, in dem sie den Dialekt der Eltern annehmen. Ich komme aus Thüringen und habe als Kind richtig starken Dialekt gesprochen. Aber in Seminaren heute kann ich nicht mehr sagen, woher meine Studenten kommen.

Von insgesamt sieben meiner DoktorandInnen kommen nur zwei aus dem Osten.

Dirk Oschmann, Literaturprofessor in Leipzig

Interessiert Sie denn, woher Ihre Studenten kommen? Fördern Sie Ostdeutsche, um die westdeutschen Netzwerke zu durchbrechen?

Heikles Thema. Am Fachbereich Germanistik bilden wir Lehrer von der Grundschule bis zum Gymnasium aus, sind mit 2500 Germanistikstudenten das größte Fach an der Uni. Studenten, die aus Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen oder Brandenburg kommen, wollen meist Lehrer werden, ihr eigenes Geld verdienen, verbeamtet werden, weil die soziale und ökonomische Situation im Osten oft prekärer ist. Studenten aus dem Westen sind zuweilen extrovertierter, mobiler – sie wollen in der Regel nicht auf Lehramt studieren, sondern in die Wissenschaft, in die Medien, die Werbung. Von insgesamt sieben meiner Doktoranden und Doktorandinnen kommen nur zwei aus dem Osten.

Der Grund sind also die schlechteren wirtschaftlichen Voraussetzungen im Osten? 22 Prozent weniger Lohn im Durchschnitt, weniger Möglichkeiten, Vermögen zu bilden, weniger Grundbesitz, wie Sie immer wieder schreiben?

Ja, eine Katastrophe. Aber es liegt auch an den fehlenden Netzwerken und dem fehlenden Wissen, wie man in diese Netzwerke kommt. Die Studienstiftung des deutschen Volkes beispielsweise schreibt jedes Jahr bundesweit alle Gymnasialdirektoren an und weist darauf hin, dass sich die besten Schüler bewerben sollen. Aus dem Osten kommt viel weniger Rücklauf. Man muss das aber wissen, begreifen, dass einem das zusteht. Und man muss sich trauen.

Sie hatten Stipendien, wieso haben Sie sich getraut?

Ich hätte mich nie von selbst auf das Fulbright-Stipendium beworben. Ich komme aus dem bildungsfernen Arbeitermilieu, ich hätte mir das nicht zugetraut und kannte das auch gar nicht. Meine damalige Freundin, eine Arzttochter, hat mir davon erzählt. So bin ich über diese Hürde gesprungen. Ich wäre nicht zum Professor berufen worden, wenn ich nicht in den USA gewesen wäre. Ich hätte keine Chance gehabt.

Gilt das für Westdeutsche auch?

Nein. Da funktionieren ja die Netzwerke.

Haben sich durch Ihren USA-Aufenthalt neue Netzwerke für Sie ergeben?

Teilweise schon, vor allem aber  war und ist es wichtiges symbolisches Kapital.

Muss man besser sein, wenn man aus dem Osten stammt?

Der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk sagt, jemand aus dem Osten muss zwei- bis dreimal so gut sein, um auf dieselbe Stelle zu kommen. So geht es auch Frauen gegenüber Männern, sie müssen doppelt so gut sein.

Wie kann man das durchbrechen?

Ganz wichtig ist es, bestimmte Phänomene wahrzunehmen und zu verstehen, um aktiv dagegen vorzugehen.

Glauben Sie, dass Ihr Buch etwas verändern kann?

Ich bin kein Prophet. Ein Filmregisseur  aus der Schweiz hat mir sehr schön geschrieben: „Ihre Tat bleibt so wichtig wie folgenlos.“ Aber für mich bleibt es nicht folgenlos.

Ich habe das Gefühl, ich kann mir weiter in die Augen blicken. Ich habe mich nur einmal freier gefühlt, das 1989/90.

Oschmann über sein Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“

Wie meinen Sie das?

Ich habe das Gefühl, ich kann mir weiter in die Augen blicken. Ich finde es wichtig, mich frei und freimütig in dieser Form artikuliert zu haben. Es fühlt sich unglaublich gut an, das muss ich einfach sagen. Auch wenn es Gegenwind gibt, auch wenn es kritische und scharfe und vollkommen wirre Rückmeldungen gibt. Ich habe mich nur einmal in meinem Leben freier gefühlt, das war 1989/90.

Wünschen Sie sich mehr Protest im Osten?

Es muss eine Möglichkeit geben, dass der Osten auf Augenhöhe im gesellschaftlichen Diskurs mitmischt. Das ist das Entscheidende. Aber wie geht das? Wie kann man dieser unglaublichen medialen Macht des Westens begegnen oder dem politischen Unwillen, irgendetwas zu ändern? So wie es keine Verkehrswende gibt, wenn man das nicht will, gibt es auch keine Diskurswende. Es sind zu wenige aus dem Osten, die sich öffentlich so artikulieren. Wie man aus der ökonomischen, diskursiven und sozialen Schieflage herauskommt, weiß ich nicht, ich bin kein Politiker. Aber der Osten darf es sich einfach nicht weiter bieten lassen.

Sie würden das Amt des Ostbeauftragten abschaffen?

Ja, sofort. Wobei ich schon froh bin, dass der neue Ostbeauftragte Carsten Schneider sein Amt sehr viel besser ausführt als sein Vorgänger Marco Wanderwitz...

… der Ostdeutsche als dikatursozialisiert beschrieben hat…

… der sich erhoben und uns alle belehrt hat.

Aber wer soll die Interessen des Ostens vertreten, wenn es keinen Ostbeauftragten mehr gibt?

Von mir aus soll Herr Schneider Minister werden.

Minister für den Osten?

Minister für Chancengleichheit wäre mein Vorschlag. Für alle.

Ich habe mich gesträubt, über DDR-Literatur zu unterrichten. Aus Selbstschutz.

Dirk Oschmann, Literaturprofessor in Leipzig

Hat sich Ihre Lehre verändert, seit Sie sich mit diesen Themen beschäftigen?

Ja, ich habe zum ersten Mal ein Seminar zur DDR-Literatur angeboten.

Zum ersten Mal? Warum nie vorher?

Aus Selbstschutz. Um nicht mit der Ost-Stigmatisierung in Verbindung gebracht werden zu können, um eine Chance im westdeutschen System zu haben. Meine historischen Schwerpunkte als Literaturwissenschaftler sind 18., 19. und frühes 20. Jahrhundert. Goethe bis Kafka. 2006, als ich meine erste Gastprofessur in den USA, in Kalifornien, hatte, sollte ich unbedingt DDR-Literatur unterrichten. Ich habe mich gesträubt, aber breitschlagen lassen. Vor einigen Jahren  ging in Leipzig eine Kollegin, die DDR-Literatur über viele Jahre hinweg angeboten hatte, in den Ruhestand. DDR-Literatur kam dann überhaupt nicht mehr vor.

Zur Person
Dirk Oschmann, geboren 1967 in Gotha, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ (Ullstein, 220 Seiten, 19,99 Euro) ist sein erstes Buch.

Da haben Sie es übernommen?

Ja, neben mir aber auch noch andere, vor allem Jüngere. Es gab Anfragen von Studierenden, und ich habe ein Semester lang die DDR-Literatur der 1950er und 1960er Jahre verhandelt, also etwa Uwe Johnson, Günter de Bruyn, Johannes Bobrowski, im zweiten Semester dann die 1970er und 1980er, Christa Wolf, Christoph Hein, Monika Maron, Franz Fühmann.

Dass von jetzt auf gleich alles anders sein kann, ist eine Erfahrung, die man sich nicht schlecht reden lassen sollte.

Dirk Oschmann, geboren in Gotha

War das Interesse groß?

Normalerweise dürfen bei uns 40 Leute ins Seminar. Bei 60 musste ich sagen: Schluss. Die Studierenden waren schwer beeindruckt. Vor allem Christa Wolf und Christoph Hein haben großen Eindruck gemacht. Einige werden ihre Abschlussarbeiten darüber schreiben.

Wie war es für Sie?

Eine gute Erfahrung. Im Übrigen kann mir ohnehin nichts mehr passieren, da ich eine Professur habe.

Und Sie haben sich jetzt öffentlich geoutet, als Ostdeutscher, der Sie eigentlich gar nicht sein wollen, wie Sie schreiben.

Ich habe mit solchen Zuschreibungen immer ein großes Problem.

Dirk Oschmann mit den Redakteurinnen Anja Reich (links) und Wiebke Hollersen
Dirk Oschmann mit den Redakteurinnen Anja Reich (links) und Wiebke HollersenMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Warum?

Ich finde, dass das Wort, dass der gesamte semantische Raum, der Osten, vergiftet ist. Selbst wenn man sich bewusst so bezeichnet, ruft man immer gleich alle negativen Konnotationen mit auf. Es ist schwierig, zu sagen, ich bin ostdeutsch, und das nach außen so positiv zu besetzen, dass es vom Gegenüber auch positiv wahrgenommen wird.

Aber die Ostdeutschen haben zwei politische Systeme erlebt und eine Revolution. Ihr Leben war aufregender als das der meisten Westdeutschen. Ist das nicht positiv genug?

Doch, natürlich. Ich würde sogar sagen, man hat drei Systeme erlebt, die Diktatur, die Demokratie – und diesen sensationellen Zwischenraum.

Die Zeit der Anarchie.

Dass von jetzt auf gleich alles anders sein kann, ist eine unverlierbare Erfahrung, die man sich nicht nehmen lassen und auch nicht schlecht reden lassen sollte, im Gegenteil, man sollte sie offensiv einsetzen. Aber für die Frage der Bezeichnung habe ich keine gute Lösung.

Solange sind Sie der ostdeutsche Bestsellerautor eines ostdeutschen Manifests. Wie fühlt sich das an?

Ich bin hoffentlich stabil genug, das auszuhalten. Was mit mir passiert, beobachte ich ein bisschen neben mir stehend; ich muss mich mit der Rolle erst noch zurechtfinden und dann sehen, wie es sich anfühlt.

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