Doku über Sara Mardini: „Ich habe mir den Tod herbeigewünscht, jeden Tag“
Von der Heldin zur Angeklagten: Der Dokumentarfilm „Gegen den Strom“ über die syrische Schwimmerin aus Berlin erzählt, wie ein Mensch nahezu seine Hoffnung verliert.

Sara Mardini ist wieder da. Sie hat auch wieder diesen kraftvollen Blick. „Langsam, ganz langsam habe ich keine Angst mehr, ich selbst zu sein. Unapologetisch“, sagt sie. Zum Gespräch in den Räumen der Filmproduktionsfirma Docdays Productions in Prenzlauer Berg ist sie in Kapuzenjacke, ausgefransten Jeans und klobigen Schuhen gekommen. Sie ist wieder im Tritt, hat feste Verbindung zum Boden. Die Dunkelheit ist weg. „Es war wirklich dunkel. Vier Jahre lang. Ich habe mir den Tod herbeigewünscht, jeden Tag“, sagt Sara Mardini.
Um sie herum sind noch die Studioleuchten aufgebaut, die sie für einen Fernsehbeitrag ins künstliche Licht gesetzt haben. Ein Reporter vom Deutschlandfunk wartet im Flur bei einer Tasse Kaffee auf seinen Interview-Termin. Sara Mardini ist wieder gefragt. Die 27-Jährige weiß, dass Medieninteresse wiederkehrt wie Ebbe und Flut. Am Donnerstag kommt der Dokumentarfilm „Sara Mardini – Gegen den Strom“ bundesweit in die Kinos.
Sara Mardini saß 107 Tage in griechischer Untersuchungshaft
Er beschäftigt sich mit der Geschichte dieser jungen Frau, die mit 20 in einem Schlauchboot vor dem Krieg in Syrien Richtung Europa flüchtete und 2015 in Berlin ankam. Von einer Heldin, die mit ihrer jüngeren Schwester Yusra zusammen das kaputte Boot dreieinhalb Stunden lang schwimmend durchs Wasser zog, um die Insassen zu retten, wurde Sara Mardini zu einer Angeklagten. Sie saß 107 Tage in griechischer Untersuchungshaft – und kam auf Kaution frei. Vier Jahre lang wartete sie auf einen fairen Prozess und verlor sich dabei beinahe selbst.
In „Gegen den Strom“ durchlebt Sara Mardini stellvertretend für andere zivile Seenotretter, die kriminalisiert und angeklagt wurden, wie humanitäre Hilfe von Europas Flüchtlingspolitik instrumentalisiert worden ist. „Sara ist in der einzigartigen Position, dass sie zu denen gehört, die 2015 als Geflüchtete willkommen geheißen wurden. Sie hat auch diese große Veränderung in den vergangenen Jahren miterlebt, in ihrer eigenen, sehr persönlichen Erfahrung. Die veränderte Haltung gegenüber Geflüchteten und denjenigen, die Geflüchteten helfen. Sie durchlebt die Wende in der politischen Landschaft der vergangenen sechs, sieben Jahre am eigenen Leib“, sagt die in London lebende Dokumentarfilmerin Charly Wai Feldman.
Sie hat Sara Mardini in den vergangenen vier Jahren immer wieder mit der Kamera begleitet. Ihr Ziel war es, dieses schwierige, kontroverse Thema von Flüchtlingspolitik und Seenotrettung in der öffentlichen Diskussion zu halten, gegen die Gleichgültigkeit anzufilmen.
Seit dem Jahr 2014 sind Statistiken zufolge mehr als 26.000 Erwachsene und Kinder beim Versuch, nach Europa zu fliehen, im Mittelmeer ertrunken. Die Zahl klingt so absurd wie abstrakt. „Was die Menschen dazu bringt, sitzen zu bleiben und diesen Film anzuschauen, sind die Emotionen, die er transportiert. Sara hat eine sehr starke Persönlichkeit, die dich mitreißt wie ein Magnet. Sie hat diese unglaubliche Stärke und gleichzeitig diese Verletzlichkeit“, sagt Feldman.
Als Sara Mardini und ihre Schwester Yusra 2015 aus Damaskus nach Berlin geflüchtet waren, kamen sie erst in der Schmidt-Knobelsdorf-Kaserne, dann im Vereinsheim von Spandau 04 unter. Beide waren Schwimmerinnen. Sie hatten ihr Land nach fünf Jahren Krieg aus Angst verlassen. Das Becken, in dem sie in Syrien trainierten, war zerbombt worden. Und die Geschichte der Schwestern, die entkräftet das eigene Flüchtlingsboot an Land gezogen und damit 23 weiteren Menschen das Leben gerettet hatten, wurde 2016 riesengroß. Die ganze Welt kannte die beiden jungen Frauen innerhalb weniger Wochen.
Yusra Mardini trifft Barack Obama, Sara geht zurück nach Lesbos
Sara und Yusra Mardini gaben damals viele Interviews. Sie bekamen im deutschen Fernsehen den Bambi in der Kategorie „Stille Helden“ verliehen. Yusra trainierte bei Spandau 04, wurde Stipendiatin des Internationalen Olympischen Komitees und bei den Sommerspielen 2016 in Rio de Janeiro zum freundlichen Gesicht des Refugee Olympic Teams. Sie sprach in New York auf Einladung von Barack Obama beim Flüchtlingsgipfel. Sie bekam den Girls Award von Unicef überreicht, traf Jordaniens Königin Rania und den Papst. Ihre Schwimmkarriere und ihr Auftritt in den Medien machten sie zum Vorbild vieler Mädchen.

Sara hingegen konnte nach der Wirbelsäulenverletzung, die sie bei der Bootsrettung erlitten hatte, nicht mehr auf Leistungssportniveau trainieren. Sie wollte nicht mehr diese mediale Aufmerksamkeit, keine Überwachung durch die Öffentlichkeit. „Ich wollte wie jede andere sein“, sagt sie. „Ich hatte eine Leidenschaft. Der bin ich gefolgt.“
Sie ging zurück nach Lesbos. Dorthin, wo sie mit ihrer Schwester in großer Not Europa erreicht hatte. Während Yusra die Jugend der Welt unter den Olympischen Ringen zum Wettkampf traf, half Sara Geflüchteten an der Küste Griechenlands beim Kampf ums Überleben. Als Volunteer der gemeinnützigen Organisation Emergency Response Centre International leistete sie Erstversorgung am Strand, versorgte Geflüchtete bei ihrer Ankunft mit Wasser, Essen, Decken.
Sara Mardini drohen 20 Jahre Haft
2018 wurde sie – mit anderen Seenotrettern – verhaftet. Die Anklage gegen Sara Mardini, den deutsch-irischen Rettungsschwimmer Seán Binder (28) und weitere Aktivisten lautete: Fälschung, illegale Nutzung von Funkfrequenzen, Spionage, Gründung einer kriminellen Vereinigung, Unterstützung von Menschenhandel. All das bestreiten sie. Dennoch drohen ihnen 20 Jahre Haft. Ihr Fall ist der erste in Europa, in dem humanitäre Hilfe offiziell von einem EU-Mitgliedstaat kriminalisiert wird. In Griechenland werden derzeit etwa 50 humanitäre Helfer strafrechtlich verfolgt. Auch in Italien drohen Aktivisten Strafen für ihre Hilfeleistungen.
Für Sara Mardini ist die Freiheit auf Kaution keine gewesen. Sie kam zurück nach Berlin, begann ein Studium am Bard College, brach es ab, arbeitete zwei Monate als Freiwillige auf dem Seenotrettungsschiff Seawatch 3, gab Arabischkurse, wartete auf einen Prozess. „Die Macht dieses Gerichtsverfahrens war, dass es nicht stattfand“, sagt Regisseurin Feldman. Die Bedrohung der Verhandlung bekam Sara Madini in vielen Facetten zu spüren: finanziell, mental, bei der Jobsuche, bei der Visums- und Staatsbürgerfrage.
Der Dokumentarfilm zeigt Sara Mardini immer wieder in Unterwasseraufnahmen: ein Körper, der tief eintaucht. In den Momenten der Ruhe wird ihre Ruhelosigkeit spürbar. Ihre Zweifel an den Grundsätzen der Humanität. An der Gerechtigkeit, von der sie gedacht hatte, sie werde sie in Europa finden. Die Szenen transportierten Gefühle unter der Oberfläche. „Ich hatte die 20 Jahre Haft ständig über meinem Kopf schweben“, sagt Sara Mardini im Film. Sie weiß, dass ihr Schicksal für viele Schicksale steht. Dass es ihr Privileg ist, öffentlich reden zu können. „Sara ist immer noch stark. Aber manchmal merkt man, wie das Verfahren ihre Rüstung beschädigt hat“, sagt Feldman.

Die Regisseurin ist auch ins Büro der Produktionsfirma nach Prenzlauer Berg gekommen. Es sind noch ein paar Tage bis zu ihrer Kinopremierentour, die bundesweit von Amnesty International und der Seebrücke Deutschland unterstützt wird. Sie führt von Hamburg und Berlin über Leipzig nach Köln und Stuttgart. Neben Feldman diskutieren Sara Mardini und Seán Binder mit dem Publikum. Wie Europa mit Geflüchteten umgeht, ist noch immer ein aktuelles Thema. Gerade erst haben die Briten einen Gesetzentwurf vorgelegt, der vorsieht, Bootsflüchtlingen kein Asyl mehr zu gewähren.
In dem Dokumentarfilm schneidet Feldman zwischen erschütternde Rettungsszenen, Flammen im Flüchtlingslager auf Lesbos und Sequenzen der zunehmend traumatisierten, depressiven Sara Mardini Statements konservativer oder rechtspopulistischer Politiker. Etwa das des früheren CSU-Innenministers Horst Seehofer: „Es kommt erst die Schaffung der Ordnung, und dann wenden wir uns diesem Thema der Humanität zu.“ Politische Rhetorik im Kampf um Wählerstimmen. Sara Mardinis mitangeklagter Freund Seán Binder hält dagegen: „Es kommt nicht darauf an, ob du politisch rechts oder politisch links bist, menschliche Leben sollten nicht Teil der politischen Agenda sein. Man kann entscheiden, Menschen kein politisches Asyl zu geben. Aber man kann sie nicht einfach dem Ertrinken überlassen.“
Sara Mardini hat in Syriens Kriegswirren zum ersten Mal ein Koordinatensystem verloren, an das sie glaubte. Sicherheit gab es im Krieg nicht mehr, weder ideell noch physisch. Sie dachte, sie sei der Ungerechtigkeit davongelaufen. Aber nach der Anklage geriet alles, woran sie glaubte, durcheinander. Sie wirkt manchmal brutal in dem Film, manchmal überdreht, oft sehr allein. „Man kann sehen, wie wütend ich bin, wie aggressiv. Traurigerweise haben meine Erfahrungen dazu geführt, dass ich eine hohe Mauer um mich aufgebaut habe. Nicht mal meine Familie kann damit umgehen. Sie weiß nicht, wie sie mir nahekommen kann. Leider war ich voller Zorn. Und voller Angst, was als Nächstes passieren würde“, sagt sie.

Vorigen Herbst kam der Netflix-Film „Die Schwimmerinnen“ heraus. Er zeigt die Lebensgeschichte von Sara und Yusra. Zwei Schwestern, die unterschiedliche Wege gingen. Yusra hat inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft; sie studiert in an der University of Southern California Filmproduktion. Wieder schauten Millionen von Menschen auf ihr Leben. Manchmal wünscht sich Sara Mardini, sie könnte ihren Namen ändern. Niemand sein. Mit ihren Freunden die Straße entlangrennen, an irgendwelchen Türen klingeln.
Berlin ist die Stadt, in der sie lebt. „Ich wollte nie hier sein. Aber gleichzeitig hat mich der Wahnsinn dieser Stadt gerettet. Er passt zu meinem Lebenswahnsinn“, sagt sie. Hier sei sie mit Menschen zusammen, die ihre Intensität teilen. Menschen, die Widerstand leisten, nicht akzeptiert sind, verletzt sind, auf die anders geschaut wird: „Gott sei Dank gibt es Musik, wir können tanzen. Das sind die Momente, in denen ich meine Freiheit erlebe. In denen ich langsam wieder mein Herz erreiche: Die Musik hilft mir.“
Nach vier Jahren unerträglicher Wartezeit begann im Januar 2023 der Gerichtsprozess in Griechenland. Ein Teil der Anklage gegen Sara Mardini, Seán Binder und die anderen wurde fallen gelassen, unter anderem der Vorwurf der Spionage. Es war eine Art Etappensieg für Sara Mardini und ein politisches Signal in einem Verfahren, das ein Bericht des EU-Parlaments den „aktuell größten Fall von Kriminalisierung von Solidarität in Europa“ nennt. Doch vor wenigen Tagen legte eine Staatsanwältin Einspruch gegen das Urteil ein. Zu einem anderen Teil der Anklagepunkte wird noch immer ermittelt.
Sara Mardini will weiter für Gerechtigkeit kämpfen
Nach einer Auszeit im vorigen Sommer, in der sich Sara Mardini um ihre seelische Gesundheit kümmerte, habe sie jetzt keine Angst mehr, sagt sie. „In der Vergangenheit hatte ich Angst, dass sie irgendwas drehen würden, sie hatten schon so viel verdreht. Doch die erste Verhandlung hat mir Hoffnung gegeben, dass es Gerechtigkeit gibt. Es hat mir bewiesen, dass die ganze Anklage ein Fake ist. Ich wusste es von Anfang an. Aber mein Problem war die Frage: Wenn etwas Fake ist, wie kann mich jemand ins Gefängnis stecken?“
Sara Mardini hat entschieden, ihr Leben, anders als in den vier vergangenen Jahren, nicht mehr vom Warten blockieren zu lassen, die Bürde der drohenden 20 Jahre Haft einfach abzulegen – auch wenn es jetzt diesen Einspruch gegen das erste Urteil gibt. Sara Mardini hat ihr persönliches Koordinatensystem gefunden. Sie will weiterkämpfen. Für Gleichheit. Für Gerechtigkeit. Sie sagt: „Ich werde nicht müde, immer und immer wieder das Gleiche zu sagen: Es ist elementar, Menschenrechte einzufordern.“ Sie hat nach der bleiernen Zeit wieder einen Plan: Musikproduktion, Modedesign studieren. Sara Mardini ist wieder da. Auf der Kinoleinwand. Und mitten im Berliner Leben.
Haben Sie Feedback? Schreiben Sie uns! briefe@berliner-zeitung.de