Drama um gelähmte ukrainische Soldaten: Wer zahlt ihre Arztrechnungen?

Andrij L., Anatoli S. und Oleksandre S. haben den Krieg in der Ukraine überlebt, werden in Brandenburg betreut. Nun scheitern sie an der deutschen Bürokratie.

Oleksandre, Andrij und Anatoli (v.l.) sind im Ukraine-Krieg schwer verletzt worden und werden jetzt in einer Rehaklinik weiterbehandelt.
Oleksandre, Andrij und Anatoli (v.l.) sind im Ukraine-Krieg schwer verletzt worden und werden jetzt in einer Rehaklinik weiterbehandelt.Volkmar Otto

Oleksandre S., 46, wurde am 24. Februar 2022 bei schweren Gefechten nahe der ukrainischen Stadt Donezk von einer Bombe getroffen. Anatoli, 56, fuhr am 4. Mai 2022 vergangenen Jahres in der Nähe von Cherson über eine Mine. Sie explodierte. Der Lkw, den Anatoli S. steuerte, fing Feuer. Er wurde aus dem brennenden Fahrzeug herausgeschleudert. Andrij L., 30, überwachte am 3. März 2022 den Luftraum über der Kleinstadt Makariw, 60 Kilometer von Kiew entfernt. Er geriet in ein Gefecht mit russischen Streitkräften. Der Splitter einer Granate traf ihn ins Rückenmark.

Drei ukrainische Soldaten, schwer verwundet in dem Krieg, den Russland gegen ihr Heimatland führt. Drei Überlebende, die nach Deutschland ausgeflogen und hier operiert wurden. Drei querschnittsgelähmte Patienten, die sich ins Leben zurückkämpfen wollen. Und zugleich gegen die deutsche Bürokratie kämpfen, weil Rechnungen für Ärzte und Pflege immer noch nicht bezahlt sind. Eine traurige Geschichte vom schwierigen Ankommen. Einerseits. Wenn da andererseits nicht die Hilfsbereitschaft wäre. Und die Liebe.

Januar 2023. Andrij L. sitzt im Rollstuhl in der Caféteria einer Rehaklinik in Brandenburg. Er nippt an einem Bier und schaut aus dem Fenster. Draußen ist es nasskalt, es regnet schon seit Stunden unentwegt. Andrij L. ist nicht allein am Tisch. Oleksandre S. und Anatoli S. sitzen in Rollstühlen neben ihm.

Die Soldaten sind nicht allein. Bei ihnen ist Madeleine Koch, eine junge Frau mit blonden langen Haaren. Sie hilft den drei Ukrainern, wenn es um den Kontakt zu Behörden geht, übernimmt pflegerische Aufgaben und steht ihnen emotional zur Seite. Und sie kann ein paar Worte Ukrainisch. „Meine Stiefmutter ist Ukrainerin“, sagt sie und schiebt Andrijs Rollstuhl ein wenig näher an den Tisch heran, als ein anderer Patient vorbei möchte.

Verliebt: Der Ukrainer und die Helferin aus Neuruppin wollen heiraten

Madeleine Koch, 31 Jahre alt, fährt jeden Tag 100 Kilometer von Neuruppin in die Klinik hin und zurück, vor ihrem Schichtdienst oder danach. Sie arbeitet als Pflegehilfskraft und kümmert sich um Demenzkranke. Als der Krieg in der Ukraine begann, engagierte sie sich in der Flüchtlingshilfe. So lernte sie die drei Soldaten kennen.

Sie wollen bald heiraten: der ukrainische Soldat Andrij und seine Betreuerin und Freundin Madeleine Koch.
Sie wollen bald heiraten: der ukrainische Soldat Andrij und seine Betreuerin und Freundin Madeleine Koch.Volkmar Otto

Und mehr noch: Sie und Andrij haben sich verliebt. Das Band ist so stark, dass sie sich entschlossen haben zu heiraten. „Wir versuchen gerade, für die Hochzeit Andrijs Papiere zusammenzubekommen“, sagt Madeleine Koch. In Kriegszeiten nicht gerade eine leichte Aufgabe. Ihre Liebe ist herausfordernd, muss viel aushalten.

Andrij L., Oleksandre S. und Anatoli S. wurden am 18. Mai 2022 von der deutschen Luftwaffe nach Berlin ausgeflogen. Ihre Verletzungen waren schwer, in Deutschland konnten sie eine bessere medizinische Versorgung erhalten. Grundlage für die Entscheidung waren bilaterale Absprachen mit der Ukraine und die Regeln des  EU-Katastrophenschutzverfahrens (EU Civil Protection Mechanism/UCPM).

Andrij L., Oleksandre S. und Anatoli S. sind nicht die einzigen Soldaten, die nach Deutschland ausgeflogen worden sind. Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit wurden bis zum heutigen Tag 647 Patientinnen und Patienten in die Bundesrepublik zur Behandlung gebracht. Deutschland hat im Hinblick auf die anderen europäischen Staaten die meisten Verletzten aufgenommen.

Andrij L., Oleksandre S. und Anatoli S. wurden an der Charité erstversorgt und jeweils an der Wirbelsäule operiert. Die Mediziner stabilisierten die gebrochenen Rückenwirbel mithilfe von Schrauben und Metallstäben. Bei der Abrechnung gab es keine Schwierigkeiten. Erst als die verletzten Soldaten Mitte Juni zur Anschlussheilbehandlung in eine Rehaklinik in Brandenburg kamen, begannen die Probleme mit der Kostenübernahme. Die Klinik selbst wollte sich auf Anfrage der Berliner Zeitung nicht zum Sachverhalt äußern.

Es geht um offene Rechnungen in Höhe von 33.370 Euro (Andrij L.), 33.134 Euro (Oleksandre S.) und 28.413 Euro (Anatoli S.). Unklar ist, wer die Behandlungskosten der Reha übernimmt; auch in den Berliner Behörden ist man sich nicht einig über die Zuständigkeiten. Drei komplizierte Fälle. Sind es Einzelfälle?

Die Rechnungen hat die Klinik am 29. September und 1. Dezember 2022 gestellt und an die je nach Geburtsmonat der Soldaten zuständigen Berliner Sozialämter Mitte, Tempelhof-Schöneberg und Steglitz-Zehlendorf sowie an die AOK Nordost weitergeleitet. So geht es aus dem Schriftverkehr, der der Berliner Zeitung vorliegt, hervor.

Wer zahlt die Behandlung in der Rehaklinik?

Die Kosten für die Akutbehandlung wurden nach Aussagen eines Sachbearbeiters der AOK Nordost direkt der Charité abgerechnet, da es ein Abkommen zwischen der Klinik und der Krankenkasse gibt. Doch Rechnungen für die Anschlussbehandlung in der Rehaklinik sind bislang nicht bezahlt.

Eigentlich hätten die Berliner Bezirksämter tätig werden müssen, sagt ein Mitarbeiter der AOK Nordost. Er verspricht, sich zu kümmern, wendet sich sofort an den Berliner Senat, um die Angelegenheit schnellstmöglich zu klären. „Wir haben dort diese Woche schon Gespräche geführt und tun alles, um das Problem zu lösen. Die Situation der Soldaten tut uns unendlich leid.“ Nach seiner Einschätzung handele es sich bei der Abrechnungsproblematik um Einzelfälle.

Madeleine Koch hat die zuständigen Berliner Sozialämter und die AOK Nordost schon vor Wochen angeschrieben, um die Kostenübernahme zu klären. „Ich habe nie eine Antwort erhalten“, sagt sie. Sie hat auch das Bundesgesundheitsministerium, das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten in Berlin und den ukrainischen Botschafter angeschrieben. „Auch dort konnte mir niemand weiterhelfen, und ich wurde von einem Sachbearbeiter zum nächsten verwiesen“, sagt sie, reichlich erschöpft und resigniert.

Das Schicksal der drei Soldaten und die Berliner Behörden

Die Ukrainerin Olena Gräfe-Elefant ist vor 20 Jahren nach Deutschland gekommen. Sie hilft ukrainischen Flüchtlingen in Berlin bei Behördengängen und dolmetscht. Sie ordnet das Problem der fehlenden Kostenübernahme der drei Soldaten nicht als Einzelfall ein. „Häufig sind die Zuständigkeiten nicht geregelt, und die Patienten werden von einem Amt zum nächsten geschickt“, erklärt sie. Das Problem hänge auch von den jeweiligen Kliniken ab. Es gebe Krankenhäuser mit sehr kompetenten Sozialarbeitern, die sich mit der Gesetzeslage auskennen und dadurch Komplikationen vermeiden.

Eigentlich ist seit 1. Juni 2022 gesetzlich geregelt, dass ukrainische Soldaten, die in Deutschland behandelt werden, das Recht zum freiwilligen Beitritt in die gesetzliche Krankenversicherung haben. In der Praxis funktioniert das so: Die Betroffenen erhalten mit der Einlieferung in ein Krankenhaus in Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis, haben damit Anspruch auf Leistungen und werden in der Krankenversicherung angemeldet. Die Krankenversicherung zahlt aber nur, wenn Beiträge entrichtet werden. Und hier wird es kompliziert.

Es gibt zwei Varianten: Wenn die Soldaten erwerbsfähig sind, trägt das Jobcenter die Beiträge der gesetzlichen Krankenversicherung und die Krankenkasse übernimmt die Kosten der medizinischen Versorgung. Wenn sie nicht erwerbfähig sind, übernehmen die Sozialbehörden die Kosten, also die zuständigen Bezirke.

Was bedeutet das für Andrij L., Oleksandre S. und Anatoli S.? Die Bezirksämter haben unterschiedliche Entscheidungen hinsichtlich der Kostenübernahme getroffen.

Jobcenter oder Sozialbehörden – wer ist jetzt zuständig?

Zum Fall Anatoli S. heißt es beim zuständigen Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg: „Aufgrund seines Alters und der nicht festgestellten Erwerbsunfähigkeit durch den Rentenversicherungsträger ist der SGB II Träger (Jobcenter) zuständig“, teilt ein Sprecher mit. Er habe die Geschäftsführung des Jobcenters über den Vorgang informiert. Kurze Zeit später ist klar, dass das Jobcenter übernimmt.

Zum Fall Andrij L. schreibt das Sozialamt Mitte: „Davon ausgehend, dass eine mehr als 6-monatige Reha-Behandlung des benannten Patienten notwendig wird, ergibt sich keine Zuständigkeit der Jobcenter, sondern der Ämter für Soziales“, teilt eine Sprecherin mit. Man lasse gegebenenfalls vom Ärztlichen Dienst die Erwerbsfähigkeit prüfen.

Zum Fall Oleksandre S. äußert sich das Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf nicht detailliert: Aufgrund der sehr hohen Anzahl an Leistungsanträgen sei es zu vereinzelten Unklarheiten über die örtliche Zuständigkeit gekommen, teilte ein Referent mit. Welches Amt die Kosten übernimmt, bleibt unklar.

Das Jobcenter teilte wiederum zu allen drei Fällen auf Anfrage der Berliner Zeitung mit: „Ihre Recherche nehmen wir zum Anlass, die von Ihnen geschilderten Sachverhalte erneut zu prüfen und mit den betreffenden Bezirksämtern abzustimmen“, so der Sprecher zur Berliner Zeitung.

Das Resümee: Die Behörden haben das Problem erkannt und versuchen es zu lösen, damit die Rechnungen bezahlt und die Soldaten weiterbehandelt werden können.

Eines der Röntgenbilder, die in einem Militärkrankenhaus in der Ukraine entstanden sind. Die Aufnahme zeigt die gebrochenen Wirbel.
Eines der Röntgenbilder, die in einem Militärkrankenhaus in der Ukraine entstanden sind. Die Aufnahme zeigt die gebrochenen Wirbel.Volkmar Otto

„Wir sind sehr froh, dass sich die Zuständigkeiten nun geklärt haben. Die offenen Rechnungen haben uns zusätzlich belastet. Wir hatten befürchtet, dass wir mit Schulden wieder nach Hause fahren“, sagt Andrij L. bei einem weiteren Treffen. Die Angst vor der Zukunft könne ihnen aber niemand nehmen.

Sie sind nicht nur körperlich schwer verletzt, sondern traumatisiert, haben in diesem Zustand in der Ukraine alles zurücklassen müssen. Kollegen, Freunde, Familie und auch ihr ganzes Gepäck. „Das OP-Hemd am Körper war das Einzige, was sie an Kleidung dabei hatten, als sie nach Deutschland gebracht worden sind“, sagt Madeleine Koch.

Sie seien voller Zuversicht nach Deutschland gekommen. „Wir haben gehofft, dass wir wieder gehen können. Die Ärzte haben alles Mögliche für uns getan, wir sind ihnen sehr dankbar dafür. Aber sie können kein Wunder bewirken“, sagt Oleksandre S.

Sämtliche Hoffnungen haben sich zerschlagen. Die Ärzte hätten bereits allen dreien gesagt, dass sie vermutlich bis an ihr Lebensende auf einen Rollstuhl angewiesen sein werden. „Eigentlich bräuchten die drei dringend psychologische Unterstützung, aber wir sind ja schon froh, wenn erst einmal die Kostenfrage der Reha geklärt ist“, sagt Madeleine Koch.

„Am schlimmsten ist es, permanent auf fremde Hilfe angewiesen zu sein“, erzählt Andrij L., ein kräftiger Mann mit blonden Haaren und Vollbart. Früher hat er sich mit Freunden in der Kneipe getroffen, hat viel gefeiert. Nun mag er sich kaum aus dem Zimmer bewegen, weil er Mühe hat, es rechtzeitig zur Toilette zu schaffen. Wegen der Lähmung ist er inkontinent geworden. „Manchmal fühle ich mich wertlos und denke, dass ich erst 30 Jahre alt bin und schon so kaputt“, sagt er. Er geniere sich dann auch vor seiner Partnerin Madeleine. Ohne narkotisierende Medikamente wie Fentanyl und Hydromorphon käme er im Alltag gar nicht zurecht, er habe unerträgliche Schmerzen.

Oleksandre S. wurde bei dem Bombenangriff der linke Arm abgetrennt. Er wartet noch immer auf eine Prothese und kann sich im Rollstuhl nur mit einem Arm fortbewegen. Er hofft, dass sich mit Klärung der Zuständigkeit auch dieses Problem lösen wird. Und ihre Rollstühle seien nur von der Klinik geliehen. „Wir wissen gar nicht, wie wir uns fortbewegen sollen, wenn die Reha vorbei ist. Wir können ja nicht nach Hause robben“, sagt er.

Die Männer haben Geburtstage, Weihnachten und den Jahreswechsel in der Reha verbracht. Oleksandre S. vermisst seine Frau und Kinder. „Vor dem Krieg haben wir immer zu Hause gemeinsam gekocht und zusammen gesessen“, sagt er. Sein 20 Jahre alter Sohn liegt ebenfalls schwer verwundet in einem ukrainischen Krankenhaus.

Können sie jemals wieder in ihre Heimat zurückkehren, wenn der Krieg irgendwann vorbei sein wird? „Wir sind in der Ukraine in Sachen Inklusion noch nicht so weit entwickelt. Wie in Deutschland mithilfe einer Rampe in einen Bus zu rollen, das ist dort undenkbar“, sagt Anatoli S. Er und seine Leidensgenossen wollen dennoch nach vorn blicken. „Wir können froh sein, dass wir noch am Leben sind.“