Drei Jahre Corona-Lockdown: Was haben wir da nur mitgemacht?

Am 18. März 2020 forderte Angela Merkel die Deutschen auf, das Coronavirus ernst zu nehmen. Wir geben zu, dass wir mitgemacht haben. Und uns seltsam verhielten.

Mit oder ohne Maske? Menschenmenge in einer Berliner Einkaufsstraße mitten in der Corona-Pandemie.
Mit oder ohne Maske? Menschenmenge in einer Berliner Einkaufsstraße mitten in der Corona-Pandemie.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Drei Jahre sind eine lange Zeit, aber nicht lang genug, wenn man vergessen will, wie merkwürdig man sich benommen hat. Vor drei Jahren verhängte Deutschland den ersten großen Schwung an Maßnahmen gegen die Ausbreitung des, wie es damals oft noch genannt wurde, neuartigen Coronavirus. Die Kanzlerin hielt eine Rede an das Volk. Die Infektionszahlen waren noch niedrig. Die Bedrohung schien riesig. Zu Hause bleiben wurde zur wichtigsten Aufgabe für jeden und jede.

Die Verbreitung eines neuen Krankheitserregers zu verzögern, bis man ihn besser verstanden und Mittel gegen ihn hat, war das Einzige, was man am Anfang tun konnte. Aber manche unserer Reaktionen auf die neue Gefahr und die unzähligen neuen Regeln wundern uns in heute dann doch. 

In den Supermarkt? Nur vermummt und mit Handschuhen

Eine Frau trägt eine Schutzmaske und Handschuhe bei ihrem Einkauf in einem Supermarkt.
Eine Frau trägt eine Schutzmaske und Handschuhe bei ihrem Einkauf in einem Supermarkt.Feichter/imago

„Es ist ernst, also nehmen Sie es auch ernst.“ Am 18. März 2020 ermahnte die Kanzlerin die Deutschen mit diesen Worten. Aber mir musste sie es eigentlich nicht sagen. Ich nahm es schon sehr ernst. So wie ich bisher jede mögliche Krankheit, jede Gesundheitsbedrohung sehr ernst genommen hatte. Meine Familie nennt mich einen Hypochonder. Gegen meine Krankheitsängste hilft normalerweise, dass andere Menschen meine Sorgen nicht ganz für voll nehmen, sie einordnen oder darüber lachen können. Jetzt aber schien niemand mehr zu lachen. 

Mir musste niemand einen Lockdown verordnen, ich fühlte mich zu Beginn der Pandemie nur zu Hause sicher. Meinen Freund, der erkältet war, wollte ich nicht sehen. Als es ihm besser ging, überredete er mich zu einem gemeinsamen Spaziergang. Weil die Sonne schien, waren die Straßen voll. Viel zu voll! Als eine Gruppe eng an mir vorbeilief, bekam ich fast einen Nervenzusammenbruch und war kurz davor, sie anzubrüllen. Brüllen galt allerdings als gefährliches Verhalten. Vielleicht trug ich ja das Virus in mir. Mein persönlicher Pandemie-Tiefpunkt war aber wohl der Tag, an dem ich mir einen Schal vors Gesicht und Handschuhe überzog, bevor ich in den Supermarkt ging. Ich glaube, in Berlin war mildes Frühlingswetter. Zu Hause wischte ich die Lebensmittel, die ich eingekauft hatte, dann zusätzlich mit einem Lappen ab, bevor ich sie in den Kühlschrank stellte. 

Ich gebe es zu: Ich war die coronapanische, regeltreue Deutsche, über die sich bis heute alle aufregen. Nach der ersten Welle wurde es besser. Nach der ersten Infektion war der letzte Rest Panik weg. Wiebke Hollersen


Drei Jahre Corona – was wir wischen

Parkettboden wischen, Fenster putzen. Nie war die Wohnung sauberer als während des Lockdowns.
Parkettboden wischen, Fenster putzen. Nie war die Wohnung sauberer als während des Lockdowns.Christin Klose/dpa

Ich habe Parkettboden, ein bisschen Laminat und ein paar Fliesen. Kreuzberger Stückwerk halt, da reicht Saugen, und alle paar Wochen wird durchgefeudelt. Schuhe bleiben draußen, seitdem ich mal las, was unter Sohlen so klebt und lebt.

Dann kam Corona und ich wurde zum lebenden Wischmopp mit Zwangsanteilen, denn das Virus ergänzte sich ganz wunderbar mit meiner latenten Hypochondrie, jedenfalls noch zu Beginn der Pandemie. Den ersten Lockdown verbrachte ich daheim, wie wir alle. Isoliert und auch verunsichert. Die beste Voraussetzung also, um die Hütte mal richtig auf Vordermann zu bringen. An einem Sonnabend erwischte ich mich dabei, wie ich alle Möbel abrückte und mit einem Lappen erst den Boden wischte und dann noch mal desinfizierte. Das muss die Dominanz der Schwaben-Gene sein. Anders ist nicht zu erklären, dass ich am ersten Tag des Wochenendes einen Putz-Aufstand veranstaltete wie eine Stuttgarter Hausfrau zur Kehrwoche. Ich wienerte und wischte, sprühte, benebelte und trocknete. Ich habe im ersten Lockdown sicher mehr Reinigungsmitteldunst eingeatmet als eine professionelle Haushaltshilfe in einem ganzen Jahr.

War ich mit den Böden fertig, hatte gewienert, gewischt, poliert und so weiter, kamen die Griffe und Klinken dran. Wie viele Griffe und Klinken haben Sie in Ihrem Heim? Bei mir sind es 16. Ich reinigte 16 Griffe und Klinken, dann bearbeitete ich den Hörer der Gegensprechanlage mit Sagrotan, obwohl da niemand reinquasselt außer mir selbst. Aber: Safety First lautete die Devise. Irgendwann begann ich, die Lichtschalter im Hausflur zu wischen, und dann war Schluss – ich stellte mich Zwang und Virus und kehrte zur Normalität zurück. Nur ab und an wische ich heute noch ein bisschen über die Klinken, aber nicht zu doll. Marcus Weingärtner


Das 1,50-Meter-Gebot und die Hütten im Wald

Polizeikontrolle im Park am Gleisdreieck als noch Ausgangsbeschränkungen galten.
Polizeikontrolle im Park am Gleisdreieck als noch Ausgangsbeschränkungen galten.Markus Wächter/Berliner Zeitung

Mit dem ersten Corona-Lockdown begann das Höhlen-Zeitalter. Bleiben Sie zu Hause!, lautete das Gebot. Gehen Sie nur raus, wenn es unbedingt notwendig ist! Kluge Wissenschaftler sagten, dass draußen an der frischen Luft nur wenig Gefahr herrsche. Aber Angst steckt an. Und plötzlich hatte man Gedanken wie: Bloß den Atem anhalten, wenn du auf dem Gehweg an den Nachbarn vorbeigehst! Bloß nicht in die Virenschleppe eines Joggers kommen!

Ordnungshüter vertrieben Leute von einsamen Parkbänken. Im Fernsehen sah man Bilder einer Drohne, die irgendwo an einer einsamen Steilküste zwei Wanderer filmte. Dazu der Kommentar: „Dieser Aufenthalt im Freien ist nicht notwendig!“ Dabei gab es auf der Welt wohl kaum harmlosere Geschöpfe – was die Ansteckungsgefahr betrifft. Die Produzenten rot-weißer Absperrbänder machten derweil den Umsatz ihres Lebens. Der Spielplatz nicht weit von unserem Haus: abgesperrt! Die Rutsche und jedes einzelne Schaukeltier rot-weiß verzurrt!

Wohin mit den Kindern?, fragten sich die Leute. Zum Glück gab es den nahen Wald, in dem wir oft unsere Runde drehten. An den ersten Baum hatte der Förster ein Schild genagelt, auf dem stand: „Liebe Waldbesucherinnen und Waldbesucher, halten Sie bitte auch im Wald mindestens 1,50 Meter Abstand voneinander, auch wenn Sie nur zu zweit unterwegs sind.“ Paare, die in ihrer heimischen Höhle dicht an dicht auf dem Sofa saßen, sollten also im Wald an verschiedenen Rändern des Weges gehen. Spätestens hier versagte die Logik endgültig.

Der Wald war schließlich die Rettung. Familien verbrachten ganze Tage dort. Eltern und Kinder schleppten Äste aller Art herbei und bauten daraus Gebilde, die wie Hütten und Tipis aussahen. Am Ende waren es mehr als zehn, die ich allein in unserem kleinen Wald zählte. Luftige Freiheitsbehausungen, entstanden in dumpfer Höhlenzeit. Torsten Harmsen


Darf ich einen Zoom-Link schicken?

Ein Teenager im Homeschooling. Am Anfang haben viele Schüler gejubelt. Dann wurde es ernst.
Ein Teenager im Homeschooling. Am Anfang haben viele Schüler gejubelt. Dann wurde es ernst.Maskot/imago

Der 18. März war der zweite Tag, an dem die Familie den ganzen Tag zu Hause war. Vom frühabendlichen Spaziergang am Landwehrkanal einmal abgesehen. Aber der gehörte damals vielleicht noch gar nicht zur Corona-Routine. Als die Nachricht kam, ihre Schule würde zumachen, hatte meine 13-Jährige noch gejubelt. Bis ihr dann klar wurde, dass keine Ferien anbrechen und sie die Wohnung mit der Mutter teilen muss, weil auch die Berliner Zeitung beschlossen hatte, dass möglichst viele Redakteure zu Hause arbeiten sollen. Keine guten Aussichten für einen Teenager. Die Mails der Lehrer, man solle für sein Kind eine geregelte Tagesstruktur herstellen, ließen nun wieder mich das Schlimmste befürchten. Vor Corona waren wir an 15 Minuten zusammen Französisch üben schon gescheitert.

Man muss allerdings sagen, dass Schule und Redaktion auch irgendwie vorbereitet waren auf die Situation. Denn es gab ja Teams. In einem Text über das Homeschooling, den ich am ersten Homeschooling/Homeoffice-Tag für die Berliner Zeitung schrieb, nannte ich Teams eine digitale Plattform, mit deren Hilfe man virtuelle Lerngemeinschaften einrichten, Besprechungen und Chats abhalten können solle. In diesen Worten schwingt das Fremdeln mit, das ich diesem Instrument entgegenbrachte. In Österreich sei Teams wegen der vielen Nutzer schon zusammengebrochen, hieß es in diesen ersten Lockdown-Tagen. Na siehste, dachte ich. Dass das wirklich funktionieren würde, glaubte damals kein Mensch. Und noch weniger, wie selbstverständlich wir all diese Plattformen mal benutzen würden, auch wenn wir längst wieder im Büro sein würden. Gibt es Worte, die einem leichter über die Lippen gehen als: „Darf ich Ihnen einen Zoom-Link schicken?“ Susanne Lenz


Der Pizzablockwart vor dem Kühlregal

Ein abgesperrter Spielplatz im Görlitzer Park. 
Ein abgesperrter Spielplatz im Görlitzer Park. Sebastian Wells/OSTKREUZ

Bis auf Weiteres! Drei Worte. Ein neues Lebensgefühl. März bis Mai 2020. Die geschlossene Gesellschaft, Teil eins. Bis auf Weiteres keine Leute sehen. Keine Bars, Clubs und Restaurants besuchen. Und kein Friseurtermin mehr, nirgends. Dank der Pandemie bekam ich zum ersten Mal in Leben lange Haare, Lockdownlocken. Andere meinten: Coronamatte. Ein Jahr ließ ich letztlich wachsen. Ich war ein eingebildeter Samson. Irgendwie mussten wir doch alle so tun, als hätten wir die Kraft, das alles auszuhalten, oder?

Ich weiß noch, wie ich plötzlich, der selbsternannte Haarpolizist, den Leuten misstrauisch auf die Spitzen geschaut habe. Im Supermarkt. Im Fernsehen. In den Videocalls. War er nicht verdächtig kurz frisiert? Hatte sie sich heimlich mit jemandem getroffen? Allerhöchstens Edward mit den Scherenhänden hätte damals maßnahmenkonform aus sicherer Entfernung praktizieren dürfen.

Wie lächerlich das alles war. Und wie einem das Lachen vergeht, wenn man sich erinnert. An den Tiefpunkt meiner Pandemiephobie zum Beispiel.

Ich war ja eigentlich kein vorbildliches Mitglied im Team Vorsicht. Das Flatterband auf dem Spielplatz hielt ich für kein Verbot, sondern nur für einen Vorschlag, das Kind besser nicht auf die Schaukel zu setzen. Und wir haben trotzdem die Großeltern besucht und dann eben das Auto so geparkt, dass man das Nummernschild nicht sieht. Aber einmal habe ich dann doch mit dem Doppelmoralfinger auf andere gezeigt. Vor dem Kühlregal.

Ich stand da schon eine Weile, konnte mich nicht entscheiden, als ein Mann es wagte, mich am Ärmel zu streifen und zielsicher nach der letzten Pizza zu greifen, für die ich mich genau in diesem Moment auch entschieden hatte. Ich: „Hallo, schon mal was von Abstand gehört?“ Er: Sagte nichts. Ich: „Die Pizza wollte ich haben!“ Er: Schüttelte den Kopf und ging. Und ich? Blieb zurück mit dem Gefühl, dass dieses soziale Experiment, in das uns ein Virus ungefragt hineingezogen hatte, bitte bald enden sollte. Es gab schon zu viele Haarpolizisten da draußen. Zu viel Pizzablockwartmentalität. Paul Linke


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