Drei Ukrainerinnen in Berlin: „Alle, die gegangen sind, fühlen sich schuldig“
Yuliia, Tamara und Olesia flohen mit ihren Kindern vor dem Krieg nach Berlin. Ein Gespräch über Hilfe von Fremden, Zerrissenheit und deutscher Bürokratie.

Treffpunkt ist eine Wohnung in einem grau verputzten Einfamilienhaus in Wittenau, in einer ruhigen Nebenstraße mit Schlaglöchern. Ein kleiner Weg führt vom Gartentor zum Haus, es geht ein paar Stufen nach oben, vor der Wohnungstür stehen ein Dutzend Paar Schuhe. Der Boden ist mit Teppich ausgelegt, im Wohnzimmer steht ein Polstersofa, an den Wänden hängen Sammelteller, und String-Regale aus den 1950er-Jahren. Olesia Malyniuk hat einen großen Teller mit süßem Gebäck bereitgestellt und serviert Tee in kleinen geblümten Porzellantassen.
Berliner Zeitung: Was ist das für ein Haus? Wie seid ihr hier gelandet?
Olesia: Hier hat eine alte Frau ihr halbes Leben verbracht. Man spürt, dass hier lange jemand zu Hause war, und das tut so gut. Es ist so ein warmer Ort. Etwas, das wir sehr vermissen nach einem Jahr Krieg. Wir haben das Haus über eine Bekannte gefunden. Sie kannte diese Frau, deren Mutter dann eben ins Heim musste …
Neben Olesia sitzt Yuliia Linko mit angezogenen Knien in der Sofaecke. Sie liebt es, hier zu sitzen, auch wenn man eine halbe Stunde unterwegs ist von Pankow, wo sie wohnt, bis hierher. Sie sucht auf ihrem Handy nach Bildern ihrer Wohnung. Sie war leer, als sie einzog. Sie zeigt auf Fotos von Räumen mit abgezogenen Dielen, von halb herunterhängenden Tapeten, von einem Nachbarn.
Yuliia: In meiner Wohnung in Pankow musste alles neu gemacht werden. Aber über unsere Gastfamilie und Nachbarn kam so viel Hilfe. Die posteten in ihren Netzwerken, dass wir Möbel brauchten. Ein Nachbar half, die Küche einzurichten, die Wände zu streichen, die Waschmaschine anzuschließen. Ich habe durch diesen Krieg auch gelernt, Menschen zu vertrauen, die ich nie in meinem Leben gesehen habe. Keine Ahnung, wie wir es ohne ihre Hilfe geschafft hätten.
Tamara: Ich habe auch erst ein paar Monate bei einer deutschen Familie gelebt, Alice und Sebastian. Sebastian arbeitet auch als Hausmeister im Diakoniezentrum Heiligensee, und erfuhr so von einer freien Wohnung, in die wir sogar unsere Katze mitnehmen konnten. Die musste unbedingt mit!
Tamara Savluk spricht nicht so gut Englisch wie ihre beiden Freundinnen, kann dafür etwas Deutsch. Manchmal helfen die anderen Frauen beim Übersetzen. Auch sie sucht nach Wohnungsfotos auf ihrem Handy und stoppt bei einer Katze, die aus einem Rucksack schaut. Das sei kurz vor der Flucht gewesen, sagt Tamara. Man sieht sie und ihren Sohn in Schlafsäcken in einem U-Bahnschacht in Mykolajiw. Dort kamen sie zu Kriegsbeginn mehr als eine Woche unter.
Tamara: Als wir im Bunker waren, bekam ich eine Nachricht von einer Freundin in Luxemburg, die mich zu sich einlud. Aber in Berlin bekam man damals schon den Flüchtlingsstatus, während die Lage in Luxemburg noch unklar war. Und dort konnten wir erst mal bei Bekannten unterkommen.
Unbürokratischer Start in der Schule
Olesia: Wir haben hier so viele tolle hilfsbereite Menschen getroffen! Aber wir hatten auch Glück: Ich habe nach unserer Ankunft eine Weile in einer Flüchtlingsunterkunft mitgearbeitet und weiß, dass Privatraum nicht selbstverständlich ist.
Yuliia: Meine Gastgeberin schickte meinen Achtjährigen einfach mit ihrer Tochter mit in die Schule. Er konnte erst einmal als Gast mit im Unterricht sitzen. Und der Kleine wurde so warmherzig aufgenommen. Die anderen Kinder malten ihm ein Plakat, auf dem in kyrillischen Buchstaben „Willkommen“ stand. Er wurde dann aber wegen der Sprache eine Klasse zurückgestuft.

Und kann er inzwischen gut Deutsch?
Yuliia: Der Kleine ja. Er bekommt auch reguläre Schulnoten, außer in Deutsch und Naturkunde. Aber dem Älteren fällt es schwerer. Er war damals 14 und kam in eine Willkommensklasse.
Tamara: Die Kinder meiner Freundin, bei der wir die ersten zwei Wochen gewohnt hatten, gingen auf eine Privatschule und nahmen meinen Sohn einfach mit. Die Schulgebühren von 250 Euro pro Monat erließen sie uns – das hätten wir uns auch kaum leisten können. Es gab an der Schule aber keine Willkommensklasse. Deshalb hat er die Schule gewechselt und lernt jetzt mit anderen ukrainischen Kindern Deutsch, die A1-Deutschprüfung hat er mit 88 von 100 Punkten bestanden. Seine Lehrerin kommt aus Kiew.
Das würde Irina Tybinka, der ukrainischen Generalkonsulin in Hamburg, wohl gut gefallen. Sie hat öffentlich dafür plädiert, dass ukrainische Kinder nach ukrainischen Lehrplänen lernen, möglichst bei ukrainischen Lehrkräften. Aber die drei Frauen wollen sich dazu nicht äußern. Sie sagen nur, dass die Schulsysteme verschieden sind. Wenn man konkret nachfragt, weichen sie immer wieder aus.
Yuliia: In der Ukraine nehmen alle, die es sich leisten können, privat Nachhilfe. Man überlegt, was will das Kind studieren und lernt dann gezielt daraufhin. Man muss da als Eltern sehr engagiert sein.
Tamara Savluk, 48, stammt aus Mykolajiw, das durch russischen Raketenbeschuss teilweise zerstört ist und direkt an der Kampfzone liegt. Zuletzt hat sie in einem Umweltberatungsunternehmen die Marketing- und Werbeabteilung geleitet. Ihr Sohn Andrij ist 15 Jahre alt. Sie kennt Olesia aus einem Deutschkurs. Alle drei sind geschieden.
Immer wieder betonen die Frauen, wie dankbar sie für die Hilfsbereitschaft der Deutschen sind. Genauso scheint ein großer Patriotismus durch. So betonen sie immer wieder, dass die Deutschen die Waffen liefern sollen, die das ukrainische Militär fordert. Sie sprechen vom großen Sieg, von der Erneuerung ihres Landes. Es liegt viel Pathos in dem, was die Frauen sagen – genau wie in manchen Telegram-Chats. In einer solchen Gruppe hatte eine Ukrainerin geschrieben, viele gingen nur nicht zurück in die Heimat, weil sie in Deutschland Sozialleistungen kassieren könnten. Schließlich gebe es in der Ukraine genug Orte, an denen nicht gekämpft werde. Solche Sätze regen die drei Frauen auf.
Yuliia: Unglaublich! Keiner weiß, wen oder was Putin als nächstes bombardiert. Eine Kollegin, die im sechsten Monat schwanger war, ist in Kiew bei einem Drohnenangriff ums Leben gekommen. Und zum Thema Sozialschmarotzer: Wir versuchen hier, uns zu integrieren, die Sprache zu lernen. Da ist keine Zeit für Partys oder Besinnung!
Wir repräsentieren hier unser Land, wir tragen stolz unsere Fahne.
Tamara: Schon jetzt arbeiten 65.000 Ukrainer mehr in Deutschland als vor dem Krieg, und sie zahlen Steuern. Die Ukrainer in Deutschland finanzieren sich quasi fast schon untereinander den Unterhalt. Viele lernen Deutsch und werden Jobs finden. Ich mache gerade einen Unternehmensgründer-Kurs für Ukrainerinnen. Es gibt dort so tolle Ideen und Frauen – und die werden garantiert nicht mehr lange auf Hilfe angewiesen sein.
Es gibt viele Ukrainer, die zu Hause geblieben oder wieder zurückgekehrt sind. Gibt es da auch ein Gefühl der Machtlosigkeit, dass man gern helfen würde?
Tamara: Ich bin stolz auf diejenigen, die geblieben sind. Aber natürlich war da erst mal ein Schuldgefühl. Andererseits ist unsere Flucht auch eine Art Hilfe: Man muss uns vor Ort nicht retten oder unterstützen. Und wir haben den Genpool der Nation, unsere Kinder, nicht nur physisch, sondern auch psychisch gerettet. Wir repräsentieren hier unser Land, wir tragen stolz unsere Fahne und stehen bei Demonstrationen und mit Aktionen für unsere Heimat ein.
Olesia: Wahrscheinlich fühlen sich alle, die gegangen sind, irgendwie schuldig. Ich spende regelmäßig. Wir sind ja in engem Kontakt mit Leuten vor Ort, sodass wir wissen, was gebraucht wird.
Tamara: Kerzenstumpen zum Beispiel sind an der Front viel wert, weil sie schwer zu bekommen sind – es gibt in der Ukraine einfach nicht genug Paraffin und Kerzen, die so lange halten und die Soldaten in den Schützengräben warmhalten.
Könnt ihr euch vorstellen, zurückzugehen?
Yuliia: Keiner weiß, wo und wann die nächsten Bomben hochgehen. Wie können wir unsere Kinder in Lebensgefahr bringen? Welches Recht haben wir, zurückzugehen?

Olesia: Wir sind im Oktober mit dem Bus zur Familie in der Ukraine gefahren. Sobald wir die Grenze passiert hatten, fing mein Sohn an, sich zu übergeben. Ich habe versucht, ihm zu sagen, dass alles gut ist. Aber nur Tage zuvor hatte es in der Gegend Anschläge gegeben. Ich habe zwei Tage gebraucht, um ihn zu beruhigen. Und er spricht ständig über Waffen, obwohl er kein Smartphone hat, und ich versuche, ihn vor den Nachrichten zu schützen. Vielleicht hat er irgendwo von russischen Bombenangriffen gehört, und das hat sich bei ihm festgesetzt. Kinder spüren so viel. Und es ist so schwer, sich in die Kinder hineinzuversetzen.
Yuliia: Mein jüngerer Sohn malt ständig Waffen und Panzer, obwohl ich versuche, ihn von den Nachrichten fernzuhalten.
Dass keiner weiß, wie lange das alles noch dauert, drückt auf die Psyche. Man kann nichts planen.
Tamara: Wir waren auch im Oktober kurz in der Ukraine, weil meine Mutter krank ist. Wir waren eine Woche unterwegs, weil die ganzen Straßen zerbombt sind. Meine Schwester und ihr Mann sind Kinderärzte. Mittlerweile leben sie in der Klinik, in der sie arbeiten, weil alles andere zu gefährlich wäre. In der Stadt fehlt es immer wieder an Strom und Wasser.
Wie können sie dort arbeiten und in Kontakt mit dir bleiben?
Tamara: In der Klinik haben sie Notstromaggregate. Und für alle anderen gibt es an vielen Orten „Aufladestationen“, also Sammelplätze mit Strom. So ist teilweise auch Online-Unterricht möglich. Aber ich will kein Roulette spielen und überstürzt zurückkehren. Auch wenn wir natürlich nach Hause wollen – sobald die Ukraine gesiegt hat. Dann wollen wir Teil der großen Erneuerung der Ukraine sein. Und diejenigen, die nicht zurückkehren, werden unsere Kultur, unser Wissen, unsere Stärke, unseren Geist und unseren Ruhm in der Welt weitergeben. Wir haben viel zu teilen!
Olesia: Dass keiner weiß, wie lange das alles noch dauert, drückt auf die Psyche. Man kann nichts planen, man muss jeden Tag damit leben.
Hier läuft alles über Papier? In der Ukraine gibt es längst eine App für alles.
Zum Alltag der Frauen in Berlin gehört auch viel Bürokratie. Und bei diesem Thema kommt sogar ein Stück Fröhlichkeit in den Raum, die Frauen lachen und unterbrechen sich gegenseitig mit ihren Erfahrungsberichten. Olesia erzählt, wie sie für einen neuen Pass nach Polen gefahren ist, weil es so schneller ging.
Yuliia: Im Sozialamt oder Jobcenter kann man viel Zeit verbringen. Es gibt keine klare Prozedur und lange Warteschlangen. Aber andererseits: So viele Ukrainer kamen auf einmal hier an – dafür hat es schon richtig gut funktioniert! Aber wir waren überrascht, dass hier alles über Papier abgewickelt wird.
Olesia: Ich glaube, ich habe in meinem Leben noch nie so viele Briefe gekriegt wie im letzten Jahr! Und dann soll man sie noch aufbewahren.
Tamara: In der Ukraine haben wir eine App, über die alles läuft. Man kann darüber seinen Impfstatus genauso abrufen wie die Geburtsurkunde oder einen neuen Pass beantragen.
Olesia: Ich fand es sehr lustig, als ich in der Bank war und ein Konto eröffnen wollte. Der Angestellte fragte mich, ob ich wüsste, was Online-Banking sei.
Tamara: Und ich habe Monate auf einen Internetanschluss gewartet. Als Marketingexpertin frage ich mich, warum zum Beispiel die Telekom uns keinen Rundumservice angeboten hat, immerhin ist sie ein großes erfahrenes Unternehmen. Ich musste auf einen anderen Mobilfunkanbieter ausweichen. Es war zwar toll, dass wir als Ukrainer hier anfangs unsere Handys gratis nutzen durften, aber die Anschlüsse zu Hause …
Olesia: Aber vielleicht ist es auch ganz gut, wenn Sachen mal dauern. Wir in der Ukraine sind mit allem so schnell. Hier gibt es sogar einen Ruhetag, sonntags sind die Geschäfte geschlossen! Die Deutschen wissen, wie man entspannt.