Ehemalige Prostituierte Ilan Stephani: „Wir gehen nicht durch die Pufftür und sind anders“

Aufrecht sitzt sie da, sie hat die Statur einer Balletttänzerin, schmal und sehnig. Die Beine stecken in Leggins und Turnschuhen, die Haare sind achtlos zu einem Knoten gebunden, sie trägt nur einen Hauch von Make-up. Nichts an Ilan Stephani, 31, passt zu dem Bild, das man von einer ehemaligen Prostituierten hat. Auch nicht, dass ihr Gesicht und ihr voller Name das Cover des Buches zieren, das sie gerade veröffentlicht hat. Eher erwartet man Frauen hinter einer Schattenwand, die unter Pseudonym „auspacken“. „Die Flucht nach vorne ist der beste Schutz“, sagt Stephani.

Haben Sie Angst, dass Menschen den Respekt vor Ihnen verlieren, wenn Sie von ihrer Vergangenheit erfahren?

Prostitution ist das Thema, bei dem alle sofort einen mentalen Kurzschluss haben. Die einen beglückwünschen mich, wo ich mir denke: Ich könnte dir auch zu deinem 40-Stunden-Bürojob gratulieren. Die anderen werten mich ab. Nichts davon wird mit mir persönlich zu tun haben. Wie wir mit dem Thema umgehen, sagt mehr über unsere Gesellschaft aus als über die Hure.

Sie sind für ein Philosophiestudium nach Berlin gekommen, eine junge Frau aus gutbürgerlichen Verhältnissen. Was hat Sie bewegt, in die Prostitution einzusteigen?

Es war einer dieser Befreiungsschläge, die man als junger Mensch macht, auch wenn es da sicher üblichere gibt als die Prostitution. Und ich hatte in der Oberstufe eine Lehrerin, die mit uns Alice Schwarzer gelesen hat. Ich war danach glühende Feministin. Für mich war völlig klar: Prostitution ist patriarchale Gewalt; ein Freier bezahlt nicht Sex, er bezahlt Macht. Und in jedem Essay arbeitete sich Alice Schwarzer an Hydra ab, der Hurenorganisation. Als ich nach Berlin kam, wollte ich den „Feind“ kennenlernen.

Sie sind zu einem Frühstück gegangen, das Hydra regelmäßig anbietet und zu dem Prostituierte und Nicht-Prostituierte eingeladen sind.

Ich habe mich vorher aufgebrezelt, kam da hin: Hallo, hier bin ich, ein bisschen was über Sex weiß ich auch... Die Frauen haben aber überhaupt nicht über Sex geredet! Es ging um ihre Kinder, um ihren Urlaub. Und ich war erbost. Warum kommen denn keine Huren zu Hydra? Bis mir die Sozialarbeiterin erklärte: Ilan, du bist die Einzige hier, die keine Prostituierte ist.

Was wurde Ihnen da klar?

Das war wie ein Knall im Kopf: Ich mit meinen Klischees habe das Problem, nicht diese Frauen. Denen geht es gut. Das fand ich spannend.

Sie sind dann zu einer Beratung für Einsteigerinnen. Sie wurden gefragt: Wenn Sie in der U-Bahn sitzen, könnten Sie sich vorstellen, mit jedem zweiten Mann, den Sie sehen, zu schlafen. Konnten Sie das?

Ich hatte schon Erfahrungen mit anonymem Sex, ich war in Berliner Swinger Clubs. Außerdem: Ich habe meine ersten sexuellen Erfahrungen in einer Liebesbeziehung gemacht, trotzdem war das nicht Sex aus Liebe. Es gehört einfach dazu.

Sie meinen, dass Geld nur einer von vielen Beweggründen ist, Sex zu haben? Man hat Sex um einen Streit zu beenden, um für gute Stimmung zu sorgen …

… aus Pflichtgefühl, um sich sexy zu fühlen. Warum muss es um Liebe gehen? Warum müssen wir sagen: Ja, so dürft ihr Sex haben, weil ihr euch dann ganz doll liebhabt? Am besten in der monogamen, glücklichen Kleinfamilie? Das Modell ist doch grandios gescheitert, egal, welche Statistik wir uns anschauen.

Alice Schwarzer hat mal geschrieben, Prostitution sei das „Endprodukt einer Sexualität, in der es nicht um Liebe geht, sondern um Macht“. Wie haben Sie das erlebt?

Klar gibt es Strukturen patriarchaler Gewalt in der Prostitution, weil es die überall gibt. Es kann aber trotzdem für eine Frau eine befreiende Erfahrung sein, in die Prostitution zu gehen. Im Puff gibt es eine Art von Begegnungstiefe, die mich interessiert hat.

Es treffen sich in erster Linie zwei Menschen?

Ja, beide Seiten legen sich sehr ins Zeug, um gemeinsam durch diese halbe Stunde zu kommen. Und die Männer bleiben dieselben verklemmten Typen wie überall. Wir gehen nicht durch die Pufftür und sind anders. Das erträumen wir uns vielleicht. Klappt aber nicht.

Der Umstand, dafür zu bezahlen, ändert nichts?

Nein. Und die Prostituierte ist, wenn sie nicht unter Zwang steht, eine extrem erfahrene Frau. Ich hatte Kolleginnen, die haben mittendrin gesagt: Macht mir gerade echt keinen Spaß mehr, lass uns was anderes machen. Welche Ehefrau macht so klare Ansagen?

Wie waren die Arbeitsbedingungen in Ihrem Bordell?

Es hatte nur tagsüber geöffnet, es gab keinen Alkohol, viele waren Stammkunden, das machte das Ganze sehr vertraut. Die Männer durften nur einzeln herein, die Hausdame hat sie begrüßt: Guten Tag, ich bringe Sie in ein freies Zimmer, die Damen stellen sich gleich vor, Tür zu. Der Mann war komplett abhängig davon, dass Frauen ihn wie ein Kind herumführen. Das machte was mit den Männern, niemand führte sich auf wie ein Pascha.

Sie kritisieren den Begriff „Prostitution“. Was stört Sie daran?

Wir haben sehr viele, sehr gegensätzliche Realitäten von Prostitution. Ich wäre zum Beispiel nie zu einem wildfremden Typen ins Auto gestiegen in der Hoffnung, dass ich das überlebe. Ich hätte auch nie gewusst, woher man einen Zuhälter bekommt. Davon verstehe ich nicht mehr als Sie. Ich muss meine Prostitution abgrenzen können von der Realität einer Straßenprostituierten.

Das Gesetz kennt diese Facetten nicht, auch das kritisieren Sie.

Das Prostitutionsgesetz ist eine besessen akribische Auflistung von Paragrafen, die den Hurenkörper von allen Seiten abtastet: Wer bist du? Du musst einen Ausweis haben! Du musst alle zwei Jahre eine Gesundheitsberatung machen! Das ist so übergriffig, dabei soll das Gesetz die Huren vor Übergriffen schützen.

Was hätte man bei diesem Gesetz anders machen müssen?

Der erste Schritt wäre, zu erkennen, dass sich das Problem Prostitution nicht auf Ebene der Gesetze lösen lassen wird, weil es dort nicht entstanden ist. Das ist wie mit Kopfschmerzen. Wenn das Aspirin nicht wirkt, sollte man sich fragen, woher die Schmerzen kommen.

Ein Anlass für das Gesetz waren unter anderem Flatrate-Bordelle. Wofür sind die denn Symptom?

Wenn das Gesetz Flatrate-Bordelle verbietet, gehen Männer halt zu unbezahlten Gangbangs. Was glauben die Politiker denn? Dass Männer sich mit ihren sexuellen Fantasien zurückhalten, weil das Gesetz sie nicht mehr erlaubt?

Die Frage ist also, warum Männer überhaupt so Sex haben wollen?

Klar, Arschlöcher gibt es überall. Der Punkt ist: Wir sind im Kern gute Wesen. Aber wir müssen etwas dafür tun, dass wir das auch leben. Das geht aber nicht, indem das Gesetz sagt: Das darfst du nicht.

Wo würden Sie ansetzen?

Was weiß ich schon darüber, warum jemand in den Puff geht? Es steht aber nicht derjenige besser da, der sich da nicht hintraut. Es ist differenzierter. Es gibt zum Beispiel keinen Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Sexualität. Männer erleben das aber nicht so, weil man ihnen nur Berührung zugesteht, wenn es um Sex geht. Also sagen sie: Ich will Sex – wenn sie eigentlich in den Arm genommen werden wollen.

Sie gehen in Ihrem Buch so weit zu sagen, dass Prostitution Männern nicht gut tut. Was meinen Sie damit?

Männer würden mir da sicher widersprechen: Sorry, ich habe den Schwanz, nicht du, so, wie du sagst, ist es nicht. Und ich denke: doch. Ich weiß, wie Hunderte von Männern Sex haben, die wie du sind. Ich weiß, was sie verpassen, indem sie glauben, Sex bestünde aus Abspritzen.

Besser als nichts...

Klar, man kann sagen: Einem Menschen, der verhungert, dem tun Brotkrumen gut. Aber so lernt er auch, dass es nur Brotkrumen gibt. Es wäre menschenwürdiger, zu sagen: Das ist erst der Anfang. Es gibt Torten! Es gibt grüne Smoothies! Wenn Männer wüssten, was alles möglich ist, dann würden sie merken: Das, was ich im Puff kriegen kann, ist überhaupt nicht interessant.

Sie beschreiben in Ihrem Buch auch sexuelle Gewalt. Ein Freier hat Sie vergewaltigt. Bestätigt das nicht die Gegner von Prostitution?

Mir hat dieses Erlebnis gezeigt: Es gibt sie, die anderen Freier, die den Puff für ihre Zwecke nutzen. Das Problem war aber ein anderes.

Welches?

Ich habe als Frau gelernt, zu lächeln und höflich zu sein. Sicher, wahrscheinlich wäre mir das so nicht passiert, wenn ich nicht im Puff gearbeitet hätte, dafür vielleicht in der Disco oder mit meinem Ex-Freund. Sexuelle Übergriffe sind in dieser Gesellschaft so verdammt häufig. Das Prinzip dahinter ist aber: Bringt euren Kindern bei, „stopp“ zu sagen. Hätte ich das gelernt, hätte ich mich gewehrt.

War dieses Erlebnis der Grund, warum Sie ausgestiegen sind?

Nein. Ich habe einen Frauenworkshop besucht, in dem wir gegenseitig unseren G-Punkt ertasten sollten, mit Handschuhen, alles war sehr klinisch. Ich hatte zu dem Zeitpunkt wenige erregende Erfahrungen mit meiner Vagina. Meine Sexualität bestand aus Orgasmen mit der Klitoris. Das geht den meisten Frauen so. Und dann habe ich plötzlich so ein Fließen erlebt, so ein Schweben. Ich habe geweint, gelacht, geschwitzt und gezittert. Und da wurde mir klar: Irgendwas beim Thema Sex habe ich echt noch nicht begriffen.

Was hatte das mit Ihrer Arbeit zu tun?

Ich konnte nicht mehr zurück in den Puff mit seinen Regeln: Wir haben eine halbe Stunde lang Sex, der Mann hat eine Ejakulation und hält das für einen Orgasmus. Warum haben wir aus einem Ozean an Empfindungen das gemacht? Und warum ist das Männern so viel wert? Da habe ich gemerkt: Ich bin satt. Es langweilt mich.

Was muss sich ändern?

Männer müssen anfangen, sich in Frage zu stellen. Zum Beispiel muss Sex nicht automatisch heißen, dass man ejakuliert. Männer behaupten gerne, dass sie dann Schmerzen bekommen. Ich sage: Was ist das bisschen Schmerz, wenn du dafür den Rest deines Lebens ekstatischen Sex hast? Es tut weh, weil sie einen verkrampften Beckenboden haben. Das kommt auch durch diese Sitzkultur: Sperrt die Leute nicht in Büros, dann hören sie auf, Frauen zu vögeln, ohne dass sie merken, wie schlecht es ihnen dabei geht.