Ehemaliges Polizeigefängnis in Berlin-Hohenschönhausen soll Erinnerungsort werden
Berlin - „Ich war bestimmt kein Held. Und ich war auch kein Märtyrer.“ Das sagt Harry Santos. Der 61-Jährige steht im Innenhof des Gebäudekomplexes in der Keibelstraße 36 in Mitte. Er trägt zu seinem schwarzen Sakko ein weißes Hemd. Haare und Bart sind inzwischen ergraut. Er hat eine Gruppe von 25 Besuchern vor sich. Nur 40 Minuten bleiben ihm, um ihnen ein Stück DDR-Geschichte zu erklären. Und die Untersuchungshaftanstalt im einstigen Volkspolizeipräsidium zu zeigen.
Der Begriff Keibelstraße war in der DDR ein Mythos, denn von außen war der Zellentrakt nicht zu sehen. Man wusste nur, dort gibt es eDin großes Polizeigefängnis, in dem Kriminelle aber auch Menschen aus politischen Gründen – etwa Wehrdienstverweigerer, Systemkritiker oder Demonstranten – inhaftiert waren. Auch Harry Santos hat in der Keibelstraße gesessen. 1982 – als politischer Häftling .
Schwere Holztüren mit Riegel
Santos führt die Gruppe durch eine Tür, ein paar Gänge entlang, ein paar Treppen hoch. Dann stehen alle in der ersten Etage, hier beginnt der Zellentrakt, sieben Etagen hoch. In der Mitte kann man durch die Stockwerke nach oben sehen, bis eine künstliche Zwischendecke den ursprünglichen Blick verhindert.
Die Zellen sind links und rechts von dem Schacht angeordnet. Nur schmale Metallstege führen vor den schweren Holztüren entlang, die mit zwei großen Stahlriegeln verschlossen werden können. „Der dunkelgraue Farbanstrich ist nicht mehr original, er stammt von Filmaufnahmen wie Good Bye, Lenin!, die hier gemacht wurden“, erzählt Santos. „Früher war der Anstrich ein schmutziges Grün.“ Auch sei es nicht so düster gewesen, weil es im Dach eine Lichtdecke gab, so dass etwas Tageslicht einfallen konnte.
Harry Santos wurde 1955 in Leipzig geboren, er gehörte zur Dissidentenszene, sein Ausreiseantrag wurde abgelehnt. „Ich wurde zur Flucht gezwungen“, sagt er. Weil er die Berliner Mauer mit Sperranlagen und Hunden kannte, bereitete er die Flucht über die Tschechoslowakei nach Österreich vor. Der Plan wurde von einer vermeintlichen Freundin verraten. Santos, damals 27 Jahre alt, wurde am 9. November 1982 verhaftet. Nachdem er durch drei Polizeireviere gefahren worden war, kam er „in die grüne Hölle“. So bezeichneten die Häftlinge einen Trakt seitlich an der Haftanstalt. Dort trugen die Volkspolizisten noch eine grüne Uniform. Nach Verhören ging es in die U-Haft, die Wärteruniformen waren blau-grau.
„Es war die Kathedrale des Grauens. Wegen der Höhe, wegen der Akustik.“ Harry Santos geht an eine Tür. Er zieht den oberen Stahlriegel mit einem Ruck zurück und schiebt ihn gleich wieder zu. Klack, Klack. Dann den unteren Riegel. Klack, Klack. Die quadratische Luke für das Essen macht ähnliche Geräusche. „Bis 20 Uhr gab es ein ständiges Riegelschlagen. Kleine Gruppen wurden über Stahltreppen etwa zum Freigang auf das Dach geführt. Die Kommandos ,Gesicht zur Wand‘ schallten immer durch die Etagen.“ Zweieinhalb Monate war Santos in der Keibelstraße, bis er als Rädelsführer wegen „Vorbereitung und Planung zum illegalen Grenzübertritt im schweren Fall“, wie es hieß, zu einem Jahr Haft verurteilt wurde und in den Vollzug nach Rummelsburg kam. Im August 1983 kaufte ihn die Bundesrepublik für damals 40.000 D-Mark frei.
Brett statt Matratze
Santos betreut sonst Besuchergruppen in der Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, die am Wochenende mit den Führungen im Polizeigefängnis an den DDR-Volksaufstand 1953 erinnert hat. Nur an zwei oder drei Tagen im Jahr dürfen sie Interessierten den denkmalgeschützten Bau zeigen. Jetzt kamen mehr als 500 Besucher. Das Gebäude gehört dem Land, die Bildungsverwaltung will das Gefängnis 2018 zu einem „außerschulischen Lernort“ für Schüler umgestalten.
Die Gedenkstätte Hohenschönhausen hingegen fordert seit Jahren, dass das Gefängnis der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. „Wir haben Erfahrungen mit Führungen am authentischen Ort. Wir können wie in Hohenschönhausen Seminare und Projekttage für Schüler anbieten“, sagt André Kockisch von der Gedenkstätte.
Sollte es so kommen, würde Harry Santos alles original herrichten. Die Arrestzelle etwa gibt es noch, dort hatte das Bett Holzbretter statt einer Matratze. In vielen der teils nur acht Quadratmeter großen Zellen stehen auch die schmalen Betten. Pro Etage, erzählt Santos, gab es für den Stationsleiter, einen Volkspolizei-Obermeister, einen Raum: „Den würde ich rekonstruieren samt Schreibtisch, vor dem wir antreten mussten. Die blau-graue Wärteruniform würde ich ausstellen. Mit Schlagstock.“