Im Staub liegt eine Rechnung. Ein kleiner Stempel, kyrillische Druckschrift, das Papier ist leicht gelb, unten eine Unterschrift mit Kugelschreiber. 70 Essen für zusammen 91 Rubel.
Ein Offizier wird irgendwen eingeladen haben, irgendwann in den 1980er Jahren, nur eine Vermutung. Alla Stritz hält den Zettel gegen das Licht. Die Unterschrift ist unleserlich. „70 Essen, 91 Rubel, was waren das für herrliche Preise!“, sagt sie.
Dann zieht die energische Blondine lachend weiter. Es geht treppauf, treppab durch das ehemalige Haus der Offiziere auf dem ehemaligen Kasernenstandort des Oberkommandos der Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf, einem Örtchen im Wald eine Stunde südlich von Berlin.
Es ist ein Spaziergang durch eine Geisterstadt und zugleich durch preußische, deutsche und sowjetische Geschichte. Vor zwanzig Jahren zog die Rote Armee aus Ostdeutschland ab. Seitdem verfällt Wünsdorf, wächst zu, verrottet. „Es ist jammerschade“, sagt Alla Stritz. Sie wird es noch etliche Male sagen an diesem Tag. Sie geht voran, kennt sich haargenau aus. Im großen Saal, ehemals das Theater und Kino, stehen die roten Sessel noch. Farbe blättert von den Wänden, es riecht muffig, Kabel und Elektroschalter sind aus den Wänden gerissen. „Hier habe ich gestanden und gesungen. Es war der 15. Januar 1989.“
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Wehmütige Erinnerungen
Alla Stritz ist Russin. Sie kam 1986 mit ihrem Mann, einem Unteroffizier, aus Leningrad nach Wünsdorf. Dort arbeitete sie als Schneiderin, nähte und reparierte Uniformen. Aber nur die von Generälen und Obersten. Jetzt ist sie 50 Jahre alt, ihre Ehe mit dem Sowjetsoldaten zerbrach. Er ging zurück, sie ist geblieben, der letzte Außenposten der Roten Armee im brandenburgischen Wünsdorf. Sie hat einen neuen Mann gefunden, ein neues Leben, aber das alte ist an ihr kleben geblieben. Sie streift durch das Kasernengelände, in dem sie fünf Jahre gelebt hatte. Heute ist sie die inoffizielle Gästeführerin.
Sie wird oft angerufen aus Russland. Ihre Handynummer ist dort bekannt und wird unter den ehemaligen Offizieren oder deren Kindern herumgereicht. Dann kommen sie, um zu sehen, was geworden ist, vor allem aber um zu sehen, was einmal war.
Als letzter, erzählt sie, sei ein Alexander zu Besuch gewesen, auch er ein ehemaliger Offizier. Sie seien über den Kasernenhof spaziert, über die Hauptwege, an denen mächtige Platanen stehen, vorbei am großen Lenindenkmal, durch den Theatersaal, vorbei am früheren Diorama, das die Schlacht um Berlin nachzeichnete. „Es ist jammerschade“, waren sie sich beide einig. „Und nun“, sagt Alla Stritz, „ist Alexander Politiker in Donezk, wo Russen und Ukrainer gegeneinander kämpfen.“
Abgeschirmt vom Rest des Landes
Wünsdorf war eine sowjetische Stadt in der DDR, abgeschirmt vom Rest des Landes. DDR-Bürger hatten keinen Zutritt zum militärischen Teil, es gab aber auch ein ziviles Wünsdorf, in dem Deutsche wohnten. Heute gibt es noch das Dorf, 6000 Einwohner und die Geisterstadt drum herum: 590 Hektar Kasernenfläche, fast 700 Gebäude aus den vergangenen hundertzwanzig Jahren.
In Wünsdorf waren Pioniertruppen stationiert, die im Ersten Weltkrieg in Frankreich kämpften. Wünsdorf, war Hauptquartier des Oberkommandos des Heeres, wo der Panzerkrieg der Wehrmacht eingeübt wurde. In den zwanzig Meter tiefen Bunkern darunter lag die Nachrichtenzentrale, von der aus die Befehle an die deutschen Truppen gingen. In Wünsdorf schlug der sowjetische Marschall Shukow 1945 sein Quartier auf. Danach wurde daraus die größte Garnison der Roten Armee außerhalb der Sowjetunion. 50000, zeitweilig auch 75.000 Männer, Frauen und Kinder lebten auf dem abgeschotteten und streng bewachten Gebiet. „Wir nannten es Klein-Moskau“, erinnert sich Alla Stritz.
Soldaten haben gerne ihre drei bis fünf Jahre in Wünsdorf gedient. Für die niedrigen Dienstränge gab es Klosets mit Wasserspülung, Waschbecken und Duschen – was nicht Standard war in der Sowjetarmee. Für die westlichen Vorzeigetruppen wurde gut gesorgt. „Wir hatten hier alles“, sagt Frau Stritz, während sie neben dem Lenindenkmal eine kleine Pause macht und über den Aufmarschplatz blickt.
„Wir hatten eigene Friseure, eigene Schulen und Kindergärten, eigene Ärzte, Theater, Museen, Sport, eigenes Fernsehen und Radio. Jeden Donnerstag fuhr ein Extra-Zug vom kleinen Bahnhof aus nach Moskau.“ Und erst die Verpflegung! Bananen, Orangen, alles sei kein Problem gewesen. „Wir hatten sogar Radeberger Bier.“ Eine Welt ist damals untergegangen.
Reibungsloser Abzug
Eigentlich ist es ein Wunder, dass der Abzug damals reibungslos, ohne Wut und Gewalt über die Bühne der Weltgeschichte ging. Was für Zeiten, was für Bilder: Der 31. August 1994 in Berlin, große Abschiedsfeier. Matwej Burlakow, der letzte Kommandeur von Wünsdorf, meldet Präsident Boris Jelzin den Abzug von 380.000 Soldaten, 170.000 Zivilisten, die Räumung von 1062 Kasernen: „Ich melde: Der zwischenstaatliche Vertrag über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts der russischen Truppen und die Modalitäten des Abzugs ist erfüllt.“
Als dann das Berliner Polizeiorchester aufspielen will, nimmt Jelzin dem Dirigenten den Stab aus der Hand und legt, schwer angetrunken, selbst los. Welche Schmach für die Sieger von Berlin.
Deutschland hat damals eine Menge Geld ausgegeben, um den Russen den Abzug so schmackhaft wie möglich zu machen. Zwischen 17 und 20 Milliarden D-Mark hat das ganze Unternehmen gekostet, vier Jahre sollte der Abzug dauern und gleichzeitig wurden mit dem Geld in Russland Wohnungen für die Heimkehrer gebaut. Zudem steckte die Sowjetunion 1990 in einer schweren Versorgungskrise, also wurden für fast eineinhalb Milliarden Mark Rinder und Schweine aus den Genossenschaften im Osten exportiert.
„Damals ist viel schief gelaufen“
Geld versickerte, nicht alle Wohnungen wurden gebaut – oder sie wurden gebaut, aber nicht für heimkehrende Soldaten. „Damals ist viel schief gelaufen“, erinnert sich Alla Stritz. Damals, das war auch die wilde Zeit der kriminellen Geschäftemacherei. All das habe sich auch unter den Soldaten in Ostdeutschland herumgesprochen.
Während in Brandenburg das Einpacken begann, ging die Sowjetunion unter. Es gab 1991 einen erfolgreichen Putsch gegen Präsident Michail Gorbatschow, zwei Jahre später einen nicht erfolgreichen gegen seinen Nachfolger Jelzin. Die abziehenden Soldaten wussten nicht, wohin sie heimkehrten. Lothar de Maizière, der letzte Ministerpräsident der DDR, meinte später: „Hochachtung, wie diszipliniert die Soldaten blieben.“
„Das Parkett“, ruft Alla Stritz. Sie steht im großen Saal im Haus der Offiziere. Prächtig, riesig, bombastisch – früher einmal. Nichts ist geblieben, die Wände sind teilweise nass, das Parkett verrottet. „Muss dass sein?“, fragt die Russin. „Muss alles kaputtgehen?“
Wünsdorf hat keine Zukunft, das leere Klein-Moskau ist heute ein Klotz am Bein der brandenburgischen Landesregierung. Es ist viel zu groß für jeden Investorentraum. Es gibt zwar eine Entwicklungsgesellschaft Waldstadt Wünsdorf/ Zehrensdorf (EWZ). Aber abgesehen von wenigen Häusern außerhalb des Garnisonsareals ist noch nichts verkauft. „Wir brauchen Leute mit richtig viel Geld“, sagt Chefin Birgit Flügge.
Zarte Hoffnungen auf russische Oligarchen
So schweben seit Jahren zarte Hoffnungen auf russische Oligarchen durch die alten Gemäuer: ehemalige Offiziere, die – wie und warum auch immer – heute eine Menge Geld haben, könnten eine Eliteschule einrichten, ein superteures Internat für Kinder reicher Russen. Dazu vielleicht ein schickes Hotel für Touristen aus Russland, die sich einmal auf die Spuren der Sowjetarmee begeben wollen.
„Das wird nie etwas“, meint Alla Stritz. Sie kennt all die Seifenblasen. Nun steht sie in einem trostlosen Flachbau unweit des Stabsgebäudes, der ehemaligen Schneiderei. Stolz zeigt sie auf die Wand, wo noch die Maßtabelle für die Uniformen hängt. „Hier habe ich mit den anderen gearbeitet.“ Auf dem Boden liegen Schutt und Zeitungsfetzen, die Prawda und die Iswestija, die Vergangenheit.
Vielleicht sollte man ein riesiges Altenheim daraus machen, mit Reha und ein bisschen Sport- und Kulturangebot. Das, meint Alla Stritz, könnte, wenn überhaupt, vielleicht funktionieren. „Alte Leute gibt es hier immer mehr“, sagt die Frau. In den Wäldern um Wünsdorf könne man herrlich wandern und Pilze suchen. Aber einen Oligarchen hat sie gerade auch nicht zur Hand. „Die wollen sofort viel Gewinn machen“, sagt sie. „Das hier wäre etwas Langfristiges, darauf haben die gar keine Lust. Und wenn dann als ersten die Behörden ankommen, der Denkmalschutz und so... Kannste vergessen!“
Die Zäune haben Löcher
Lenin blickt streng über den Aufmarschplatz, die Sonne scheint herbstlich. Besonders gut bewacht ist das riesige Areal heute nicht, es gibt zwei oder drei Security-Leute, aber die Zäune haben Löcher. Metallschrott wird geklaut, Bäume werden gefällt, heimlich wird nach Waffen, Munition und Schätzen gegraben. Alla Stritz, der freundliche letzte Außenposten der Sowjetarmee, hat es geschafft. Sie kommt gut zurecht, betreibt ein Restaurant im Nachbardorf.
Uniformen näht sie immer noch, wie vor 28 Jahren, als sie nach Wünsdorf kam. Heute seind sie aus Latex, knackig enge Dessous in Tarnfarben und Military-Look. Sie zeigt ein Foto, ein wenig bekleidetes Modell in knapper Fantasieuniform mit riesiger Pistole in der Hand. Ihre neuen Uniformen verkaufen sich offenbar gut, vor allem in der alten Heimat. Andere Zeiten, andere Uniformen. Sie lacht vergnügt: „Russen lieben so etwas.“