„Das ist wie zu Stalin-Zeiten“: Eine Innensicht aus dem Moskauer Alltag zu Kriegszeiten
Das vergangene Jahr bedeutete auch für viele Russen eine Zeitenwende. Sie flüchteten, haben nun Ängste, empfinden Scham. Ein Einblick in den Alltag eines Moskauers.

Das Moskauer Leben scheint für Arkadi Poljakow* weit weg vom Krieg zu sein. Das mag nicht nur an den über 900 Kilometern Luftlinie zur Kriegsfront liegen. Auch der Moskauer Alltag hat sich in den vergangenen zwölf Monaten in einen Normalzustand entwickelt. In der Öffentlichkeit sichtbar ist der Angriffskrieg seines Landes auf die Ukraine in der russischen Hauptstadt nur selten. Für ihn, seine Freunde und Familie ist es eher ein Gefühl, ein Allgemeinbefinden, geprägt von Scham, Angst und Ohnmacht.
In dem Jahr seit dem Überfall von Arkadis Landsleuten ist auch im Leben des gebürtigen Moskauers viel passiert. Der liberale, westlich orientierte Mittzwanziger hat seine langjährige Freundin Valentina geheiratet. Die beiden Russen haben sich 2015 während der gemeinsamen Studienzeit in Deutschland kennengelernt. Fast sein gesamter Moskauer Freundeskreis hat im Sommer geheiratet. Jedoch nicht feierlich mit vielen Gästen und teurem Sekt und Kaviar, sondern online per App und mit Termin beim Bürgeramt.
„Wenn wir eines Tages auswandern“, sagt Arkadi, „möchten wir den Status eines Ehepaars haben.“ Sie vermuten, bürokratische Angelegenheiten wären dann unkomplizierter als eine, rechtlich gesehen, lose Beziehung. Die beiden lieben sich, haben sich ihre Hochzeit aber natürlich anders vorgestellt. Statt umgeben zu sein von Hunderten von Gästen, war es nur ein Termin, als ob man sich für eine Wohnung ummelden möchte. Für die Flitterwochen planten sie trotzdem einen gemeinsamen Urlaub. Der erste seit mehreren Jahren für beide. Zuvor hat ihnen ja Corona einen Strich durch die Rechnung gemacht, dann kamen der Krieg und die Sanktionen.
Reisen nach Europa fallen bekanntermaßen weg
Reisen nach Europa fallen bekanntermaßen weg, da sie nicht zwei bis drei Tage allein für die An- und Abreise nutzen wollen. Die Moskauer, die heutzutage noch in Berlin, Mailand und Paris auf Städtetrip sind, müssen über Istanbul, Dubai oder Belgrad mehrstündige Flüge hinter sich bringen. Arkadi und Valentina würden auch nach Deutschland sehr gerne zurück kommen, da sie dort für zwei Jahre studiert haben. Sie sind damals mit einem Austauschprogramm nach Berlin gekommen. Solche Programme wurden kurz nach dem 24. Februar vergangenen Jahres ausgesetzt. Die umfangreichen Sanktionen, die Flugstopps in Russland, erschweren Reisen in die Europäische Union.

Arkadi meint jedoch, dass die Reisesanktionen bisher ihr Ziel verfehlt haben, obwohl er grundsätzlich für die Sanktionierung gegen sein eigenes Land sei. „Es ist eine Fehlwahrnehmung der Europäer zu denken, dass der Mehrheit der Russen, Reisen in den Westen so überlebenswichtig wären.“ Laut dem offiziellen Russischen Tourismusverband sind unter 20 Prozent der Russen jemals im Ausland gewesen. Zudem besitzen über 80 Prozent der russischen Staatsbürger gar keinen Auslandsreisepass, den sie für einen Urlaub außerhalb des eigenen Landes benötigen.
Stattdessen schauen sie sich wie die meisten ihrer Freunde anderweitig um: entweder eine Woche im Inland, vielleicht in die Berge in den nördlichen Kaukasus oder mit dem Kleinbus rund um den Goldenen Ring, ein Gebiet altrussischer Städte nördlich von Moskau. Aber auch das Ausland bleibt eine Option: Für diese Variante gibt es tägliche Flugverbindungen ins benachbarte Minsk, nach Ägypten, an die türkische Riviera oder sogar nach Südostasien. Arkadi und Valentina entscheiden sich für ein verlängertes Flitterwochenende im Spätsommer auf einer gemieteten Datscha kurz hinter dem Moskauer Autobahnring. Kurz bevor Präsident Wladimir Putin eine Teilmobilisierung der Streitkräfte anordnet.
Mobilisierung als Wendepunkt für viele Russen
Es sind für Arkadi panische Tage und Nächte Ende September. Der russische Angriffskrieg kam mit der Ankündigung Putins, über Hunderttausende von Reservisten für den Krieg zu mobilisieren, in die Moskauer und Petersburger Haushalte. In den sozialen Medien herrscht Hektik. Wohin kann man ausreisen? Was tun, wenn ich einen Einberufungsbescheid bekomme? Wer kann helfen? Arkadi fragt sich, ob er jetzt mit seinen Mitte 20 auch einen Einberufungsbescheid bekommen würde.
Ein guter Freund von ihm bekommt nach wenigen Tagen einen Zettel, ignoriert ihn jedoch und flüchtet ruckartig mit zwei Koffern nach Georgien. Arkadi will sich hingegen mit Valentina absprechen, sie entscheiden sich gemeinsam, für zwei Monate nach Kasachstan zu fahren. Seine Mutter meint, es gebe dort eine Verwandte dritten Grades, die sie zunächst aufnehmen würde.

Mit einem kleinen Rucksack, um unauffällig zu bleiben, geht es ins über 3500 Kilometer entfernte östliche Kasachstan. Flüge nach Astana oder Almaty sind ausverkauft oder kosten über 60.000 Rubel, was umgerechnet 800 Euro sind. Es sind horrende Preise in diesen Tagen für Auslandsflüge in Russland. Deshalb fliegen sie erst ins sibirische Barnaul. Von dort fahren sie mit anderen Flüchtlingen per Taxi an die Grenze. Sieben Kilometer vor den Checkpoints beginnt es sich zu stauen, dann geht es zu Fuß weiter. „In der Schlange stehen Jungs wie ich, Großstädter, ITler, Studenten, Wissenschaftler“, sagt Arkadi. Nach einer Odyssee von über drei Tagen ist er dann in einem kasachischen Dorf angekommen. Mit über 200.000 Russen flüchtete Arkadi innerhalb weniger Wochen in die kasachische Steppe. Insgesamt sollen fast eine Million Menschen Russland verlassen haben.
Kurz vor Weihnachten geht es dann zurück in die Heimat: zu den Eltern, zu Freunden. Moskau hat sich wie immer zum Jahreswechsel rausgeputzt. Im Vergleich zum vorherigen Weihnachten gibt es kaum sichtbare Unterschiede im Stadtbild. Touristen aus allerlei Ländern kamen schon aufgrund der Pandemie in den vergangenen Jahren nicht. Zwar zählt Arkadi nun mehr und mehr Werbeplakate mit patriotischen Sprüchen und auch Z-Symbole sieht er immer wieder auf Autos oder Graffitis. Aber bei einem Spaziergang durch den Gorki-Park, beim Fußballspiel seiner Lieblingsmannschaft Spartak Moskau oder auf dem Weg zur Arbeit in der Metro merkt er nichts von dem schon mehrere Monate andauernden Krieg Russlands.
Unter der Oberfläche brodelt es jedoch: Immer mehr seiner Freunde sind ausgewandert oder planen die Flucht. Von seinen fünf besten Freunden sind nur noch zwei in Moskau. Auch er hat mit Valentina den Entschluss gefasst, Russland innerhalb der nächsten Monate zu verlassen. „Allerdings ist flüchten gar nicht so einfach, wie ich dachte“, sagt er. Neben den physischen Schwierigkeiten, was er mit seiner Frau alles mitnehmen soll, kommt noch die mentale Komponente dazu. Wird er seine Eltern je wiedersehen? Kommt er jemals in seine Geburtsstadt zurück?
Wenn Arkadi jedoch an seine ukrainischen Freunde und Kollegen denkt, mit denen er bis heute in Kontakt steht, empfindet er Scham. „Im Vergleich zum Leid der ukrainischen Bevölkerung ist das natürlich nichts, was ich gerade durchmache“, sagt er. Arkadi benennt den Krieg auch Krieg und nicht wie Putin oder das russische Staatsfernsehen „Spezialoperation“.
Die Angst vor einem falschen Dresscode
Dabei muss Arkadi im alltäglichen Leben auf der Hut sein. Schon vermeintlich kleine Aktionen können als hochpolitisch gewertet werden. Seine Lieblingsjacke von Nike ist knallgelb. Zieht er sie mit einer blauen Jeans an, ergibt es umgedreht die Farben der ukrainischen Flagge. Seine Eltern bitten ihn, die Jacke nicht mehr anzuziehen, da sie Angst haben, die Polizei würde seinen Dresscode für eine politische Aktion halten und ihn wegen „Hochverrat“ oder „Diskreditierung russischer Streitkräfte“ verhaften. Die Bandbreite reicht von Geldstrafen bis hin zu mehreren Jahren Freiheitsentzug.
Auch von seinem Arbeitgeber – einem lokalen Atlas-Zeichner – hat er im vergangenen Jahr das erste Mal eine ernste Rüge erhalten. Arkadi weigerte sich, die annektierten Regionen Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk ins Territorium Russlands einzuzeichnen. Er untermalte die Regionen in dem Atlas mit gelbem Farbton, der Farbe der Ukraine und nicht mit hellblauer Farbe, der Farbe der Russischen Föderation. Am nächsten Tag meldete Arkadi sich krankheitsbedingt ab. In Wahrheit brauchte er jedoch nur eine Pause und hoffte, am nächsten Tag wären keine politischen Landkarten mehr zu zeichnen, sondern nur noch physische Karten.
Seine Ängste und die nun schon fast einjährige Scham betäubt Arkadi mit seinen verbliebenen Freunden in Restaurants und auf Hauspartys. Sie reden jedoch – im Vergleich zu den ersten Wochen seit dem 24. Februar 2022 – immer seltener offen über den Krieg. „Das Thema wird zum Selbstschutz ignoriert“, sagt er. Einige Bekannte haben sich zerstritten, Denunziantentum hat in den Wohnhäusern oder unter Arbeitskollegen in Russland merklich zugenommen. „Das ist wie zu Stalin-Zeiten“, spricht Arkadi offen seine Gefühle aus.
„Ich kann für uns eine Zukunft in diesem Land nicht mehr vorstellen“, sagt der Moskauer. Er wünscht sich einen schnellen Sieg der Ukraine, einen Fall Putins und eine noch schnellere Demokratisierung Russlands. Doch er ahnt, dass seine Hoffnungen utopisch klingen. „Solche Leute wie ich sind in der Minderheit, derzeit teilen um die zehn Prozent meine Einstellungen zum Krieg“, sagt er. „Und viele dieser zehn Prozent sind schon geflüchtet oder werden in den kommenden Monaten ausreisen.“ Er wird sein Moskau vermissen und fängt langsam an zu packen.
* Namen sind geändert und liegen der Redaktion vor.
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