BER-Mitarbeiter: „Ich wollte den 32-Kilo-Koffer fangen, da knackte es im Rücken“

Mit den Sommerferien hat der nächste Stresstest für den Flughafen BER begonnen. Es sieht so aus, als ob er ihn besteht. Für das Personal bleibt der Job hart.

Passagiere im Flughafen Berlin Brandenburg, kurz BER. Für die Sommerferien 2022 erwartet die Flughafengesellschaft FBB am neuen Hauptstadt-Airport rund drei Millionen Passagiere.
Passagiere im Flughafen Berlin Brandenburg, kurz BER. Für die Sommerferien 2022 erwartet die Flughafengesellschaft FBB am neuen Hauptstadt-Airport rund drei Millionen Passagiere.Berliner Zeitung/Markus Wächter

Mal was ganz anderes machen, dachte Hendrik B., das wäre es doch. Könnte er nicht anders Geld verdienen, als damit, am Flughafen Berlin Brandenburg (BER) Taschen von Touristen herumzutragen? Er hatte da auch schon eine Idee: „Ich könnte mit einem Bauchladen voller Schmerzmittel zu den Kollegen gehen, die das Gepäck ein- und ausladen“, sagt Hendrik B. „Die brauchen immer mal wieder eine Tablette. Sonst halten die es nicht durch.“ Eine Tablette gegen die Schmerzen im Rücken, eine andere gegen die Stiche im Knie. Wie viel Geld da zusammenkäme!

Wer an jedem Arbeitstag tonnenweise Gepäck von Fluggästen schleppen, in niedrige Laderäume kriechen und 32-Kilo-Koffer wuchten muss, dem gibt der Körper oft eine schmerzhafte Rückmeldung. Jetzt hat wieder die Hochsaison des Schleppens begonnen, in der noch mehr Koffer anfallen als sonst: Start der Sommersaison am BER.

Für viele Berliner und Brandenburger lautet die Frage: Wird es in diesen Ferien besser klappen als im Herbst, als Chaos ausbrach? Beim Start in dieser Woche zeigte sich, dass es für die meisten Passagiere bisher gut gelaufen ist. Vielflieger berichteten verdutzt, dass sich am BER offenbar einiges geändert habe, dass er besser funktioniert als andere Airports. Doch weiterhin ist klar: Wer heutzutage mit dem Flugzeug verreist, erlebt eine Branche am Anschlag. Mit einst stolzen, heute verunsicherten Beschäftigten.

Viele Geschäftsreisende bedeutet: wenig Arbeit

Hendrik B. heißt in Wirklichkeit anders. Er möchte seinen echten Namen nicht in der Zeitung lesen. Ansonsten zeigt sich der Mann gesprächsbereit. Er will erzählen, wie es wirklich ist am Flughafen. Und warum er in nächster Zeit nun doch nicht ins Pharmazie-Business wechseln wird. „Dazu bin ich meinem Arbeitgeber und vor allem den Kollegen gegenüber viel zu loyal“, sagt er.

Der Berliner arbeitet bei einem der drei Bodenverkehrsdienstleister, die am BER im Auftrag der Fluggesellschaften für einen reibungslosen Ablauf sorgen sollen. Hendrik B. ist für die Verladung des Gepäcks zuständig. „Wenn unter der Woche eine Maschine aus Köln/Bonn ankommt, ist das meist ziemlich easy“, sagt er. Sind viele Geschäftsreisende unterwegs, bedeutet das für ihn: wenig Arbeit. „Mal sind es nur 15 Koffer. Dann vielleicht 45, aber das geht auch.“ Jetzt sind Sommerferien, da fällt mehr und anderes Gepäck an.

„Am Feierabend weiß man, was man getan hat“

Für jedes Kind ein Extrakoffer mit Spielzeug und elektronischem Schnickschnack, damit im Sommerurlaub keine Langeweile aufkommt. Dazu schwere Schalenkoffer mit Kleidung für jede Ferienwetterlage, Kosmetikvorräten, Lebensmitteln – man weiß ja nie, was es am Urlaubsort alles nicht gibt. Schließlich noch ein Kinderwagen, in den auch noch eine Tasche gepackt wurde. So ein Wagen wird kostenlos befördert, die Tasche also auch. Und das ist nur das Gepäck einer Familie, viele Tausende warten noch im Terminal.

„Geht es zu einem Ferienziel, fallen im Schnitt pro Flugzeug zwischen 180 und 250 Gepäckstücke an“, berichtet Hendrik B. Und sie sind schwerer als sonst. „Einmal lag ein 32-Kilo-Koffer mit einem Heavy-Aufkleber auf dem Wagen. Plötzlich rutschte er vom Stapel. Als ich ihn auffangen wollte, knackte es plötzlich in der Wirbelsäule.“ B. musste krankgeschrieben werden, und damals brauchte auch er eine große Menge Schmerztabletten. Gelenkverschleiß, schmerzende Bandscheiben und andere orthopädische Probleme gehören zum Beruf. Als Berufskrankheiten gelten sie aber nicht.

In diesem Metier dauerten Arbeitsschichten schon mal bis zu 9,5 Stunden, neun Stunden gelten heute als normal. Die Verladung muss schnell gehen, länger als 25 bis 35 Minuten ist kaum noch ein Flugzeug am Boden. Wenn der Flugplan durcheinandergerät, müssen Pausen ausfallen. Wasserspender gibt es an der Rampe nicht, Cafeterien sind nicht immer geöffnet, wenn man sie braucht. Im Flugzeug stehen keine technischen Hilfsmittel zur Verfügung, effiziente Ladehilfen wären zu teuer. „Am Feierabend weiß man, was man getan hat“, sagt Hendrik B. „Da hat man einige Tonnen Gepäck bewegt.“ Er hat ausgerechnet, dass es schon mal sieben bis zehn Tonnen pro Schicht sein können.

Kein Wunder also, dass der Krankenstand hoch ist und pro Schicht oft Dutzende fehlen. Dass bei den Ladegruppen 20 bis 25 Prozent der Kollegen ausfallen, käme öfter vor, berichtet er. Auch und gerade jetzt in der Sommerferiensaison. Deshalb lautet Hendrik B.s Prognose für den BER derzeit: „Wir werden auch diesmal auf dem Hintern landen.“ Pech für die Passagiere.

Enrico Rümker ist Sekretär der Gewerkschaft Verdi, zuständig für den BER.
Enrico Rümker ist Sekretär der Gewerkschaft Verdi, zuständig für den BER.Berliner Zeitung/Sabine Gudath

Enrico Rümker nimmt einen Schluck Kaffee, noch etwas mehr Koffein, dann könnte dieser Kaffee vielleicht Tote aufwecken. Das perfekte starke Gebräu für eine Branche, in der die Arbeit am Flughafen BER manchmal um 4.30 Uhr beginnt, oder noch früher. Der Verdi-Sekretär sitzt im zweiten Obergeschoss des Bürohauses am Willy-Brandt-Platz in Schönefeld, wo die Gewerkschaft ihr Flughafenbüro eingerichtet hat. Vom Fenster aus kann er Fluggäste sehen, die noch etwas frische Luft tanken, bevor es für einige Stunden in die klimatisierte Kunstwelt des Ferienfliegers geht.

Gewerkschaft: Im Vergleich zu anderen Flughäfen läuft es am BER gut

Was kann Rümker den Fluggästen sagen, die jetzt vom BER in den Urlaub fliegen? Er sieht die Situation positiver als Hendrik B. „Ich sage nicht, dass es keine Störungen am Flughafen geben wird. Aber unterm Strich will jeder hier seine Arbeit gut machen“, sagt der Gewerkschafter. „Im Vergleich zu anderen deutschen Flughäfen läuft es am BER noch relativ gut.“ Natürlich sollten die Passagiere auch hier rechtzeitig im Terminal sein: zweieinhalb Stunden vorher, so lautet der Tipp. Doch anderthalb Kilometer lange Warteschlangen beim Check-in, wie sie aus Düsseldorf gemeldet wurden, habe es hier noch nicht gegeben, und sie seien wohl auch nicht zu befürchten. Anders als in Frankfurt am Main müssten in Schönefeld keine Frachtflüge wegen Personalmangels ausfallen.

Die Flughafengesellschaft FBB scheine aus dem Chaos, das dem BER zu Beginn der Herbstferien 2021 schlechte Presse bescherte, gelernt zu haben, lobt Rümker. Der neue Geschäftsführer für den operativen Flughafenbetrieb, Thomas Hoff Andersson, habe sich bei den Mitarbeitern auf der „Platte“ über die Lage des Bodenpersonals informiert. Sein Besuch auf dem Vorfeld kam gut an, so der Verdi-Mann. „Ein Kollege berichtete mir, dass er vorher in 22 Jahren noch keinen Geschäftsführer aus der Nähe erlebt habe.“

Kapazität der Sicherheitskontrollen ist gestiegen – es wird sogar gescherzt

Inzwischen gebe es mehr Servicepersonal, Prozeduren am Flughafen wurden verbessert. Mitarbeiter laufen mit Walkie-Talkies durch die Terminals und beobachten, wie es läuft.

Ein weiteres Beispiel sind die Sicherheitskontrollen. Der Bereich, in dem Beschäftigte der Securitas im Auftrag der Bundespolizei tätig sind, galt bisher als Nadelöhr. Doch weil davor inzwischen Bereiche eingerichtet wurden, in denen Passagiere ihr Handgepäck noch einmal überprüfen und nicht zugelassene Gegenstände aussortieren können, gehe es bei den Kontrollen schneller voran. Nun halten nicht mehr so viele Passagiere mit Shampooflaschen oder Taschenmessern den Betrieb auf. Konnten bisher an einer Kontrolllinie im Schnitt 85 Fluggäste pro Stunde durchgeschleust werden, sind es jetzt 110. Passagiere erzählen, dass sie hier nicht einmal zehn Minuten anstehen mussten.

Ein Fluggast berichtet, dass am Donnerstag die Stimmung so gelassen war, dass sogar gescherzt wurde. Ein Security-Mitarbeiter sagte Reisenden, die ihre Koffer öffnen mussten: „Wir setzen uns da jetzt druff, dann jeht dit schon.“ Der Gast, ein Vielflieger, hatte den Eindruck, das operative Management habe aus Fehlern gelernt, nachgesteuert und alle Mitarbeiter dazu motiviert, wach, aufmerksam und serviceorientiert zu sein.

Doch ein großes Problem ist geblieben: Überall in der Luftfahrtbranche fehlt Personal. So sind an den Sicherheitskontrollen im BER durchschnittlich 17 Prozent der Arbeitspositionen nicht besetzt, vor allem wegen Krankmeldungen. Personalmangel trägt auch dazu bei, dass Luftfahrtgesellschaften immer wieder geplante Starts streichen müssen. Ende Juni betrug der Anteil der ausgefallenen Flüge am BER wie berichtet sechs Prozent. Allein in der 25. Kalenderwoche waren mehr als 30.000 Passagiere betroffen.

Sicher, die Bodenverkehrsdienstleister Swissport, Aeroground und Wisag haben Mitarbeiter eingestellt – so gut das auf dem leergefegten Arbeitsmarkt möglich ist. Die Ansprüche wurden immer weiter gesenkt, so ein Kollege von B. „Selbständig atmen können, das ist die einzige Anforderung, die geblieben ist“, scherzt er. Doch trotz aller Bemühungen: Auch bei der Gepäckverladung ist die Personaldecke zu dünn – weil angesichts von Kostenzwängen knapp geplant wird und die Krankenquote hoch ist.

„Früher bestand eine Ladegruppe in der Regel aus vier Loadern, die das Gepäck ins Flugzeug ein- oder ausladen, sowie einem Ramp Agent, der aufpasst, dass das Gewicht richtig verteilt wird“, erzählt Hendrik B. „Heute müssen viele Ladegruppen mit nur zwei oder drei Loadern auskommen.“ Damit nicht genug: Bei den Bodendienstleistern kommen immer neue Aufgaben dazu. Ein Beispiel ist die Fluggesellschaft Easyjet, die ihre Fluggäste nun auch durch die zweite Tür ins Flugzeug einsteigen lässt. Auch der Weg dorthin muss überwacht werden, und dieses Personal fehlt dann bei anderen Aufgaben.

Wenn die französische Flugsicherung ein System ändert, spürt das Berlin

Mit dem Two-Door-Boarding will die britische Fluggesellschaft verhindern, dass sich Verspätungen aufbauen – die dann am Abend dazu führen können, dass Flüge gestrichen werden, weil die Crews in den Feierabend entlassen werden müssen. Verspätungen sind auch am BER ein Problem. Im Juni wurden nur noch 48 Prozent aller Abflüge am Hauptstadtflughafen als pünktlich registriert. Ein Jahr zuvor waren es 80 Prozent, im letzten Vor-Corona-Jahr 2019 immerhin 61 Prozent.

Warum verspäten sich Starts am BER? In knapp zwei Dritteln der Fälle werden Probleme bei der Flugsicherung genannt oder dass die Maschinen schon verspätet eintrafen.

Zu wenige Lotsen? Das weist die Deutsche Flugsicherung, kurz DFS, zurück. „Die DFS hat kein Personal entlassen und auch während der Pandemie kontinuierlich die Ausbildung für das betriebliche Personal fortgesetzt“, sagt die Sprecherin des Bundesunternehmens, Kristina Kelek. Der Tower Berlin arbeite nicht an der Belastungsgrenze. „Wir liegen in der Prognose für den Sommer bei knapp 70 Prozent des Flugverkehrs vor der Pandemie.“

Trotzdem gibt es mehr Arbeit als sonst. „Zurzeit übernimmt die DFS zur Stabilisierung des europäischen Netzwerks eine Vielzahl von Flügen, die den deutschen Luftraum eigentlich nicht genutzt hätten“, berichtet Kelek. „Grund ist die Einführung eines neuen Flugsicherungssystem in der Kontrollzentrale Reims, das die Franzosen zwingt, ihre eigene Kapazität einzuschränken.“ Weil aufgrund des Kriegs in der Ukraine Lufträume gesperrt wurden, sei der Verkehr im Osten Deutschlands dichter geworden. Zudem sei der Anteil des militärischen Flugbetriebs erheblich gestiegen, so die Sprecherin.

Angespuckt und angegriffen

Die Luftfahrt ist eine Branche am Anschlag, das gilt auch für die Psyche der Beschäftigten. Wer mit seiner Familie lange im Terminal Schlange stehen muss, wird schon mal ausfällig, zuweilen sogar handgreiflich. „Die Kolleginnen vom Check-in werden angebrüllt und immer öfter auch angespuckt. Die müssten eigentlich im Regenmantel am Schalter sitzen“, erzählt Hendrik B. Wenn sich eine einzige Check-in-Mitarbeiterin um alle Passagiere eines Fluges kümmern muss, sind die psychischen Grenzen schnell erreicht. „Nach 180 Fluggästen ist man einfach nur fertig“, berichtet B.

Es könne auch richtig brenzlig werden, erzählt er. Eine Kollegin habe einem älteren Ehepaar beim Einchecken mitteilen müssen, dass das Gewicht ihres Aufgabegepäcks die von der Airline festgesetzte Freigrenze übersteige. „Das Paar musste um die 50 Euro zahlen. Als die Kollegin nach Feierabend zu ihrem Auto wollte, stellte sich ihr der Sohn in den Weg. Wenn sie die 50 Euro nicht zurückgeben würde, ließe er sie nicht zu ihrem Wagen.“ Der Sohn hatte die ganze Zeit auf sie gewartet, bis ihr Dienst endete.

Als Hendrik B. in Tegel anfing, war die Luftfahrt noch eine stolze Branche. In den 2000er-Jahren begann der Druck stärker zu werden. Unternehmen wurden verkauft, Arbeits- und Lohnbedingungen verschlechtert. „Früher hatte ich 28 Urlaubstage pro Jahr plus bis zu 20 Schichtausgleichstage“, berichtet er. „Heute sind es 25 Urlaubstage, und Schichtausgleich gibt es nicht mehr.“ Immerhin, dank Verdi sei die Bezahlung besser geworden. Ein Loader verdient jetzt etwas mehr als 2500 Euro pro Monat brutto. Ein Supervisor, der die Verladung beaufsichtigt, bekommt knapp 3500 Euro.

In Berlin und Brandenburg hat die Urlaubszeit begonnen. Auch für Hendrik B.? Noch nicht, sagt er. Aber eines sei für ihn klar: „Fliegen werde ich nicht.“