Familie, drei Kinder, 4844 Euro netto: „Ab jetzt gibt’s nur noch Margarine“

Familie Krimmel aus Berlin hat monatlich 4844,35 Euro netto für fünf Personen, Haus und Bedürfnisse. Die Berliner und die Inflation – Teil 2 unserer neuen Serie.

Roshanak Amini für Berliner Zeitung

Lars schiebt den Einkaufswagen. Das machen wohl die meisten Sechsjährigen gern. Er bestimmt, wo es langgeht in dem großen Supermarkt. Die anderen können dann ab und an etwas in den Wagen laden. Wenn Lars gerade Lust hat anzuhalten. Wenn nicht, dann nicht. „Laahaaars“, schallt es immer wieder durch die Gänge. „Wo bist du?“

Es ist ein Unternehmen, mit einer fünfköpfigen Familie in einem Supermarkt einkaufen zu gehen. Alle zusammen machen sie das sonst nur im Urlaub, es dauert einfach zu lange. Judith ist schon ganz verschwitzt, obwohl die Temperatur im Kaufland angenehm ist. Judith ist Lars’ Mutter und fühlt sich heute besonders verantwortlich für alles, schließlich guckt eine Journalistin beim Einkaufen zu.

Grund zum Schwitzen hat sie aber nicht nur wegen Lars. Gerade ist zur Abwechslung mal Antonia verschwunden. Antonia ist zwölf und wird dann am Nutella-Regal entdeckt. Sie hat ein Maxi-Glas in der Hand. 1000 Gramm. Dem Mädchen ist durchaus anzusehen, woran es gerade denkt. „Bitteee“, sagt Antonia mit gefühlten drei e am Ende. Judith schüttelt den Kopf. Zu viel Zucker. Aber darauf ist die Tochter schon vorbereitet. „Nur 3,99 Euro, 39 Cent für 100 Gramm. Das steht auf dem Schild. Viel billiger als die kleinen Gläser“, sagt sie, die Tatsache ignorierend, dass auch kleinere Gläser gar nicht zur Debatte stehen. Es geht ihrer Mutter um die Gesundheit.

Wir haben uns für diesen Einkauf verabredet – Familie Krimmel und die Berliner Zeitung. Judith* und Henning, die Eltern, 43 und 49 Jahre alt, und ihre drei Kinder: Johanna, 16 und genervt, Antonia, 12 und unterzuckert, und Lars, 6, der richtig vergnügt bei der Sache ist. Sie haben sich bereit erklärt, für uns Kassensturz zu machen, ihr Familieneinkommen offenzulegen, um zu zeigen, was die Inflation damit anrichten wird.

Netto bleiben 4844,35 Euro, aber dann kommen die festen Ausgaben

Nichts Gutes, vermuten die Eltern, denn mit drei Kindern, Haus und Garten sei bei normalen Mittelstandsgehältern sowieso schon nicht sehr viel übrig, sagen sie. Judith ist Grundschullehrerin. Sie verdient brutto 45.700 Euro pro Jahr. Henning arbeitet als Vertreter für Medizinprodukte und kommt auf 41.200 Euro. Nach den üblichen Abzügen bleiben ungefähr 58.000 Euro, im Monat sind das 4800 Euro netto. Das klingt erst mal nach viel Geld. Ist es aber offenbar nicht. Denn ihr Netto-Gehalt spiegele ja nicht wieder, was sie wirklich übrig haben, sagen sie. Viel weniger sei das.

Beim gemeinsamen Einkaufen bekommt man schon mal ein Gefühl dafür. Während Lars mit dem Einkaufswagen durch die Gänge im Kaufland saust, Judith übergroße Packungen Waschmittel, Obst, Gemüse, Fleisch, Nudeln, Mehl, Milch, Quark, Käse einlädt und die Teenies Süßes in den Wagen schmuggeln, stellt Henning immer mal wieder besonders Exaltiertes zurück ins Regal. Espressobohnen für 18 Euro zum Beispiel. „Müssen es echt italienische sein?“, fragt er. Schmeckt halt besser, ist die schnippische Antwort seiner Frau. Henning nimmt die Eigenmarke des Supermarkts. Halber Preis.

An der Buttertheke gibt es einen kleinen Aufruhr. Eigentlich wollten sie drei Pakete mitnehmen. Von Ferne leuchten die Schilder für die Sonderangebote hell und rot. Allerdings lautet das Angebot 3,29 Euro für 250 Gramm. Im April waren es 1,99 und vor einem Jahr 1,59. „Puh“, stöhnt Judith. „Ab jetzt gibt’s nur noch Margarine“, sagt Henning. „Die schmeckt aber nicht“, findet Antonia.

Beim Fisch gibt es dann eine Diskussion über Nachhaltigkeit. Abgesehen von den Preisen, die beim Fisch locker doppelt bis dreimal so hoch sind wie beim Fleisch, geht es nun zur Abwechslung mal Teenie Johanna ums Prinzip. Lachs isst sie nicht mehr. Der sei bedroht und der aus der Aquakultur verseuche die norwegischen Fjorde. Das will sie keinesfalls unterstützen. Und ihre Eltern sollen das auch nicht tun. Sonst, so droht sie, wird sie jetzt gleich hier und jetzt im Supermarkt den Familienfrieden ein für alle Mal aufkündigen. Teenager sind eben drastisch.

Serie: Kassensturz – so viel bleibt den Berlinern zum Leben
Lebensmittel sind teurer geworden, Heiz- und Energiekosten gestiegen. Der Winter wird hart, heißt es, die Prognosen sind düster. Wie können Berliner und Berlinerinnen das schultern?
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Fisch geht in den Augen der 16-Jährigen eigentlich überhaupt nicht mehr und Fleisch auch nicht. Rinder produzierten zu viel Methan, sagt sie. Schweine und Hühner würden unter schlechten Bedingungen gehalten. „In Käfigen! Möchtest du im Käfig leben ein kurzes Leben lang und dann – Hackebeil“, schleudert sie ihrem Vater entgegen und deutet am Hals an, wo ihn das Hackebeil treffen könnte.

Gegen die Avocados fürs Sonntagsfrühstück hat sie auch etwas – zu viel Wasser. „Und für deine Kaffeebohnen werden mit Sicherheit arme Bauern in Südamerika ausgebeutet“, sagt sie. Der Ton – ein einziger Vorwurf. Henning rollt mit den Augen und besteht auf eine Packung Nackensteaks. 1000 Gramm für knapp acht Euro. Das ist vor allem günstig, und darauf kommt es ihm jetzt an.

Am Ende ist der Wagen voll – trotz aller Bedenken. 188,29 Euro. Ein ganz normaler Wochenend-Einkauf. So weit, so einfach. Danach wird es komplizierter. Um das Familienbudget zu entwirren und den Einnahmen die Ausgaben gegenüberzustellen, haben die Eltern auf ihre Terrasse eingeladen. Henning und Judith haben ein Haus am westlichen Rand der Stadt.

Es ist ein heißer Tag. Gegenüber der Krimmel’schen Terrasse sprengt ein Nachbar seinen Rasen. „So ein Unfug“, sagt Judith. Sie hat Biologie studiert. Die Wassertropfen würden in der Mittagshitze wie kleine Brenngläser auf die Grashalme wirken. Bei 30 Grad könne das Gras ohnehin keine Feuchtigkeit aufnehmen. Alles verdunste. Und dann noch die Kosten. Sie schnauft. Dann breitet sie einige Ordner mit Rechnungen, Kontoauszügen und Jahresabrechnungen auf dem Gartentisch aus.

Alles wird teurer, jedes Jahr. Die aktuellen Preissprünge aber sind krasser denn je. Am schlimmsten ist es beim Gas zum Heizen. Wie die Verbraucherzentrale Brandenburg kürzlich ausgerechnet hat, zahlt eine vierköpfige Familie in diesem Jahr allein für Essen und Energie knapp 3500 Euro mehr als im vergangenen. Am wenigsten ist bisher der Strompreis gestiegen. Aber Strom kostet ja ohnehin sehr viel mehr als Gas.

Laut Statistischem Bundesamt beliefen sich die durchschnittlichen Konsumausgaben im Jahr 2020 pro Haushalt auf 2507 Euro im Monat. Dabei werden durchschnittlich 923 Euro für Wohnen und Wohnnebenkosten, 387 Euro für Verpflegung und 325 Euro für Transport ausgegeben. Wie es in diesem Jahr sein wird, lässt sich bisher nur grob abschätzen, so schnell verändern sich gerade die Preise. Sie steigen um 100 Prozent beim Gas, 15 Prozent beim Strom, 20 Prozent bei Lebensmitteln, 35 Prozent bei Kraftstoffen.

2678 Euro nach Abzug für Kredit, Nebenkosten, Grundsteuern, Versicherungen

Judith und Henning haben ihre Kosten nur so ungefähr im Blick. Es reicht ihnen normalerweise, bei großen Ausgaben abzuwägen und den Kontostand zu beobachten. Aber jetzt haben sie Ehrgeiz entwickelt. Und so blättern sie nun erst mal, schreiben Zahlen auf aus ihren Daueraufträgen, addieren und ziehen die Posten voneinander ab. Nach einer Stunde präsentieren sie eine Zahl: 2678 Euro sind übrig nach Abzug der festen Kosten für Kredit und Energie, Wasser, Müll, Grundsteuern, Versicherungen und allem anderen, was man zwangsläufig hat als Hausbesitzer wie Heizungswartung, Schornsteinfeger und so weiter.

Aber die Rechnung bleibt kompliziert. Es stellt sich die Frage, was überhaupt feste Kosten sind. Die Musikschule für die Kinder ist schon mit drin und auch das Auto, allerdings nur die Posten für Versicherung und Steuern. Reparaturen und Sprit kommen noch dazu. Und dann fällt ihnen immer mehr ein, was noch zu berücksichtigen wäre. Netflix und die Handys sind in der Rechnung enthalten, aber sie sind ja gar nicht alle im selben Sportverein, sondern zahlen mehrere Beiträge. Dann sind da noch die Kaninchen hinterm Haus, die brauchen Heu und den Tierarzt. Johanna geht zum Voltigieren, die Kinder haben Klassenfahrten, brauchen Bücher. Und dann kommen natürlich noch Lebensmittel und Kleidung dazu, die größten Posten.

Bei den Lebensmitteln ist es auch schwierig. Keiner führt in dieser Familie akribisch über die Einkäufe Buch. „Ich gebe vielleicht 150 Euro für den Wocheneinkauf aus“, sagt Judith. „Viel zu wenig. Ich kaufe ja auch ein“, sagt Henning, „vielleicht kommen dann doch 250 Euro zusammen“. Und das mal vier bis fünf Wochen. Das wären 1250 Euro im Monat und läge deutlich über der Angaben des Statistischen Bundesamts. Das statistische Mittel liegt nach Angaben der Bundesbehörde bei 387 Euro pro Haushalt pro Monat. Allerdings sind sie zu fünft – und damit größer also als eine Durchschnittsfamilie. „Das kann nicht sein“, sagt Judith und stöhnt mal wieder. „Und der Lars, der isst ja auch gar nicht so viel.“

Der Wocheneinkauf an Lebensmitteln ist nicht die größte Sorge der Familie. Da können sie durchaus ein wenig sparen, schon allein durch größere Packungsgrößen und über Angebote. So sehen sie es selbst. Die Falle ist das Haus. Es ist sehr alt und sehr groß. Hohe Räume, hohe Heizkosten. Dafür war die Anschaffung preiswert vor vielen Jahren. Ein Kredit läuft noch – bis Oktober. Dann haben sie ihn abgezahlt. Gerade rechtzeitig vielleicht, bevor sich der gestiegene Gaspreis auf ihre Heizkosten auswirken wird. Beim Gas haben sich die Preise bereits verdoppelt. Und es wird wohl noch mehr werden.

In der vergangenen Woche hat der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, öffentlich gewarnt: „Ab 2023 müssten sich Gaskunden auf eine Verdreifachung der Abschläge einstellen, mindestens.“ Es sei absolut realistisch, dass Kunden, die derzeit 1500 Euro im Jahr für Gas bezahlen, künftig mit 4500 Euro und mehr zur Kasse gebeten werden.

Das wird bei Judith und Henning nicht reichen. Sie haben die Diskussionen über die steigenden Gaspreise verfolgt, saugen die Nachrichten regelrecht auf. Es ist neben dem Kredit und den Lebensmitteln ihr größter Posten. 300 Quadratmeter beheizte Fläche und nur zum Teil neue Fenster. Judith legt die letzte Erdgasabrechnung auf den Tisch: 3551,25 Euro für den Abrechnungszeitraum März 2021 bis März 2022. 56.324 Kilowattstunden. „Im Herbst drehen wir die Heizung ab“, sagt Henning.

Warteliste für Wärmepumpen

Sie haben schon lange überlegt, den alten Brenner rauszuschmeißen und einen neuen mit einer Wärmepumpe zu kombinieren. Aber das ist gar nicht so einfach. Im März haben sie einen Handwerksbetrieb angefragt. Seitdem warten sie auf ein Angebot. Regelmäßig rufen sie dort an, aber die Handwerker sind offenbar nicht der Knoten im Geschehen. Für Wärmepumpen gibt es jetzt Wartelisten. „Wie bei den Kitaplätzen damals“, sagt Judith. Sie klingt etwas bitter.

Henning klappt schwungvoll die Ordner zu. Es wirkt wie ein Schlusswort. Er hat schon überlegt, einfach Holzöfen in die Räume zu stellen. Schornsteine haben sie schließlich in dem alten Haus genug. Heizen wie früher. Und das Klima? „Tja“, sagt Henning, „in der Krise rutscht der Gedanke nach hinten.“ Wahrscheinlich wird er aber doch etwas anderes machen. Wöchentlich anrufen beim Installateur und die Heizkörper runterdrehen, wenn es kühler wird. 18 Grad müssen dann reichen.

* Alle Namen sind verändert, der Redaktion aber bekannt.