Elke Breitenbach über Flüchtlingspolitik: „Das wird uns teuer zu stehen kommen“

Berlin - Die Mitglieder der SPD stimmen bis zum Wochenende darüber ab, ob die Partei auf Bundesebene noch einmal eine große Koalition mit der Union eingehen soll. Im Koalitionsvertrag gibt es umfangreiche Vereinbarungen zum Thema Flucht und Asyl. Wir haben Elke Breitenbach (Linke), die Berliner Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales gefragt, was sie davon hält.

Frau Breitenbach, als zuständige Senatorin eines rot-rot-grünen Senats: Wie bewerten Sie die Koalitionspläne?

Das entspricht etwa dem, was ich erwartet habe. Da haben wir in Berlin deutlich Besseres im Koalitionsvertrag stehen.

Was stört Sie besonders?

Es ist grausam, dass der Familiennachzug für subsidiär Geschützte weiter ausgesetzt ist. Das ist nicht nur inhuman, sondern trägt wesentlich dazu bei, dass diese Menschen sich nicht integrieren können. Das halte ich für komplett falsch. Und nicht nur ich, zum Beispiel auch die Regierung in Schleswig-Holstein, die das im Bundesrat heute noch mal thematisiert.

In dem Vertrag ist eine Art Obergrenze formuliert, auch wenn der Begriff nicht verwendet wird. Da hat sich vor allem die CSU durchgesetzt. Pro Jahr sollen nicht mehr als 180.000 bis 220.000 Menschen zu uns kommen. Was sagen Sie dazu?

Ich bin gegen jede Form von Obergrenze, auch wenn sie geschickt umschrieben werden soll. Das widerspricht ganz entscheidend der formulierten Absicht, dass das Grundrecht auf Asyl nicht angetastet wird. Im Augenblick kommen etwa 700 Menschen im Monat in Berlin an, das ist weit entfernt von der festgelegten Obergrenze. Aber tagtäglich sterben noch immer viele Menschen im Mittelmeer, weil es keine legalen Fluchtwege gibt, um hier Asyl zu beantragen. Viele Menschen leben über Monate oder Jahre in Griechenland oder der Türkei und kommen nicht weiter. Das ist eine vollkommen unbefriedigende Situation.

Was halten Sie von den sogenannten Ankerzentren, die im Koalitionsvertrag stehen? Der Begriff ist ein Euphemismus für zentrale Massenunterkünfte, in denen Menschen von der Aufnahme bis zur Abschiebung bleiben müssen.

Auch diese lehne ich ab. Diese Zentren bedeuten, dass die Ankommenden 18 Monate dort bleiben sollen, Familien mit minderjährigen Kindern etwas kürzer. Die Vorstellung, dass Menschen in solchen Zentren festsitzen, weil sie keine Bleibeperspektive haben, aber auch nicht abgeschoben werden können, ist schrecklich. Das wäre eine erhebliche Verschlechterung der bisherigen Situation.

Sie verfolgen in Berlin als rot-rot-grüner Senat einen ganz anderen Ansatz in der Flüchtlings- und Integrationspolitik. Steht das nicht in diametralem Gegensatz zum Koalitionsvertrag?

Ja, unser Kurs ist ein anderer, auch wenn wir noch nicht alles haben umsetzen können.

Was machen Sie anders?

Wir möchten, dass Menschen so schnell wie möglich aus den Notunterkünften herauskommen und in bessere Unterkünfte umziehen, in denen sie wenigstens selbst kochen können. Ziel bleibt es aber, sie so schnell wie möglich in Wohnungen unterzubringen.

Nun herrscht aber in Berlin wie in anderen deutschen Großstädten große Wohnungsnot.

Ja, das ist in der Tat ein Problem. Trotzdem halte ich unsere Herangehensweise für einen vernünftigen Weg. Die Ankerzentren verbauen jegliche Chance, dass die Menschen sich in die Gesellschaft integrieren können. Sie sitzen dann dort und sind zum Nichtstun verurteilt. Es gibt keine Deutschkurse, sie dürfen keine Arbeit aufnehmen, auch das ist eine Verschlechterung gegenüber den bisherigen Festlegungen. Wir organisieren damit in Deutschland die Desintegration und die Dequalifizierung von Menschen, die hierher kommen. Das ist nicht nur inhuman, sondern wird uns auch teuer zu stehen kommen.

Was machen Sie als Berliner Senat, wenn die große Koalition kommt? Machen Sie dann den Flughafen Tempelhof, den Sie gerade geschlossen haben, als Ankerzentrum wieder auf?

Wir werden das jetzt erst einmal abwarten. Was mit den (Erst-)Aufnahmeeinrichtungen geschieht, die es in Berlin und in allen anderen Bundesländern gibt, ist noch unklar. Wenn es entsprechende bundesgesetzliche Regelungen gibt, gilt es sie umzusetzen. Wir werden dann ausloten, welche Spielräume wir als Länder haben. Und diese Spielräume werden wir natürlich auf jeden Fall nutzen, und zwar im Sinne der geflüchteten Menschen.

In Berlin sind seit dem Jahr 2015 etwa 45.000 Menschen angekommen, und etwa zwei Drittel sind mittlerweile anerkannt. Trotzdem leben aber immer noch viele in Gemeinschaftsunterkünften.

Das ist richtig. Derzeit leben noch mehr als 2000 Menschen in Notunterkünften. Diese Unterkünfte haben sehr unterschiedliche Qualitäten. Es gab die prekären Unterkünfte wie den Hangar auf dem Flughafen Tempelhof, das ICC und das Kaufhaus in Neukölln, die wir inzwischen freigezogen haben.

Was meinen Sie mit prekär?

Das sind Unterkünfte, in denen es keine Zimmerstruktur und damit keinerlei Privatsphäre gibt. Darüber hinaus gibt es Notunterkünfte, in denen die Menschen nicht selbst kochen können, weil der Einbau von Küchen dort schwierig ist. Das selbstständige Zubereiten des Essens ist den Geflüchteten sehr wichtig und würde den Menschen wenigstens ein Stück weit mehr Selbstbestimmung ermöglichen.

Die sogenannten Tempohomes, also Container-Unterkünfte sind besser?

Ich halte die Tempohomes grundsätzlich für schwierig. Sie sind aber für die Menschen eine Verbesserung, weil sie eine eigene kleine Wohnung haben, mit Bad und Küche, auch wenn es Container sind.

Warum werden denn immer noch Containerunterkünfte gebaut?

Das sind die Tempohomes, die der vorherige Senat bestellt hat. Neue Einrichtungen dieser Art bauen wir nicht mehr. Die Container sollen zudem in drei Jahren auch wieder abgebaut werden. Viele stehen auf Grundstücken, für die es bereits andere Planungen gibt, zum Beispiel Wohnungsbau. Wir haben beschlossen, künftig nur noch modulare Unterkünfte zu bauen. Das sind feste, schnell zu bauende Häuser in Wohnungs- und Apartmentstruktur, die sogenannten MUFs, die auch für andere Menschen ein bezahlbarer Wohnraum sein könnten.

Wie passt es zu Ihrer Strategie, dass viele Unterkünfte eingezäunt sind?

Am liebsten würden wir natürlich die Zäune überall abbauen. Vor zwei, drei Jahren hatte das LKA dringend zu dieser Maßnahme geraten. Grundsätzlich wollen wir aber wegkommen von Zäunen und sehr schnell integrative Formen der Unterbringung schaffen. Ziel ist, die neu gebauten Modularen Unterkünfte auch für andere Menschen zu öffnen, Studenten zum Beispiel. Es muss aber eine gute Mischung geben, damit keine neuen sozialen Brennpunkte entstehen.

Auch in der Berliner Bevölkerung gibt es nicht nur Akzeptanz für diesen integrativen Ansatz. Wie erklären Sie ihn den Menschen?

Ich glaube, wenn geflüchtete Menschen in Wohnungen leben und einfach nur Nachbarn sind, gäbe es deutlich mehr Akzeptanz.

Im Koalitionsvertrag ist die Rede von Integration, allerdings soll es die nur bei positiver Bleibeperspektive geben und Worte wie Erfolgskontrolle, Integrationsmonitoring, Fördern und Fordern lassen darauf schließen, dass es vor allem um Abgrenzung geht. Passt das zum Berliner Modell?

Nein, das tut es nicht. Ein Integrationsmonitoring ist nichts Schlechtes, aber in dem Koalitionsvertragsentwurf bleibt unklar, worum es eigentlich geht. Dazu wird es noch Auseinandersetzungen im Bundestag und auch im Bundesrat geben. Ein Beispiel: Es soll eine Vereinbarung zwischen dem Bund und den Ländern über eine unabhängige Asylverfahrensberatung geben. Das wollen wir in Berlin sowieso schon umsetzen. Geflüchtete Menschen brauchen eine juristische Beratung, die von einem Amt, einer Behörde unabhängig ist. Wie sich die Bundesregierung das vorstellt, weiß ich nicht.

Da steht wohl ein Zentrum in Franken Modell. Dort haben Asylberater kaum noch Zugang. Man ahnt also, was gemeint sein könnte?

Allerdings. Es führt nämlich dazu, dass Menschen ihrer Rechte beschnitten werden, wie beispielsweise in den Schnellverfahren. Da kommen Menschen an und am Abend des gleichen Tages wissen sie dann schon, dass sie keine Chance haben. Da bleibt keine Zeit, dass sie sich zur Gesetzeslage sachkundig machen können. So wird es auch in den Anker-Zentren sein. Es sind dort keine Integrationskurse vorgesehen, keine Deutschkurse, keine Arbeitsmöglichkeiten. Ich kann dem Vertragsentwurf der möglichen künftigen Koalitionäre nicht entnehmen, ob die Kinder geflüchteter Familien dort überhaupt in die Schule gehen dürfen. Den Menschen bleibt nur zu warten, bis sie abgeschoben werden. Das ist der komplett falsche Weg.

Warum?

Wir sehen die Bilder aus Syrien und wir sehen, wie dort Tag für Tag Menschen sterben. Es ist doch vollkommen nachvollziehbar, dass die Menschen versuchen, wenigstens ihr Leben zu retten. Sie fliehen. Daran werden wir sie nicht hindern können, auch nicht durch abschreckende Maßnahmen.

Wie stehen Sie zu Abschiebungen nach Afghanistan?

Ich halte das für Wahnsinn. Afghanistan ist kein sicheres Land.

Wie handhabt Berlin das derzeit?

Wir schieben nicht ab. Nur Straftäter werden abgeschoben.

In Ihrer Partei stehen nicht alle für eine offene, integrative Flüchtlingspolitik. Wie führen Sie den innerparteilichen Konflikt?

Wir reden auf Landes- und Bundesparteitagen natürlich über dieses Thema. Auch wenn es nicht immer einhellige Meinungen gibt, sind die Mehrheiten klar.

Sie halten nichts von dem Argument, AfD-Wähler mitzunehmen?

Nein. Wenn Menschen AfD-Positionen für richtig halten, dann wählen sie das Original. Die CDU ist mit diesem Versuch schon gescheitert. Der Linken würde es nicht anders gehen.