Energiewende in der Lausitz – Was kommt nach der Braunkohle?
Welzow - Auf Luftbildern sieht die Gegend um Welzow aus, als wäre sie von Warzen befallen. Löcher übersäen die Landschaft, sie haben seltsam gerade Ränder, an denen der Wald und die Felder enden. In manchen der Löcher steht Wasser. In dem östlich von Welzow nicht. Dieses Loch ist noch im Werden. Es gibt einen Aussichtspunkt oberhalb der kleinen Bergbaustadt, eine kleine Straße führt den Hang hinauf. Oben angekommen, schaut man auf eine seltsame grau-braune Wüste. Dunkle Erde, zu endlos langen Wällen aufgeschüttet. Abraum heißt das auf Bergbaudeutsch. Ein seltsames Wort. Als die Erde an ihrer alten Stelle war, da war sie noch Mutterboden, der eine Landschaft formte.
Reiner Hanisch kommt alle paar Monate hier hoch mit seinem türkisfarbenen Opel, so auch an diesem kalten, grauen Dienstagvormittag. Der 67-Jährige hat seine Kamera dabei, immer aus der gleichen Perspektive macht er seine Bilder. „Ich will die Veränderung dokumentieren“, sagt er. „So ein Tagebau steht ja niemals still.“ Seit Jahren macht er das, hat die unendlich langsame Bewegung der F60-Förderbrücke in Bildern gefangen, die sich ganz dicht an Welzow herangearbeitet hatte und jetzt schon wieder fast zwei Kilometer südwestlich des Orts steht. Jede Sekunde schafft sie fünf Kubikmeter Lausitz als Abraum weg. Darunter liegt die Braunkohle. „Man soll die Kohle nicht verteufeln“, sagt Reiner Hanisch. „Die ist wie eine Batterie.“
Verpflichtung im Weltklimavertrag
Diese Batterie soll nun abgeklemmt werden. Vor drei Wochen hat die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ – kurz Kohlekommission – ihren Abschlussbericht veröffentlicht. Wochenlang hatten die Mitglieder aus Wirtschaft, Politik und Umweltverbänden verhandelt und gefeilscht. Ergebnis: Spätestens in 19 Jahren, 2038, endet der Braunkohleabbau in Deutschland.
Jährlich 55 Millionen Tonnen Kohlendioxid bleiben der Atmosphäre erspart, wenn allein die drei Kraftwerke in der Lausitz abgeschaltet werden. Auf die ganze Bundesrepublik gerechnet entfallen fast ein Fünftel der CO2 -Emissionen auf die Braunkohle. Würde Deutschland an der Braunkohle festhalten, könnte es seine Verpflichtungen aus dem Weltklimavertrag nicht einhalten. Andere Länder haben sich längst von der Braunkohle abgewendet. Dafür gibt es gute Gründe, neben dem Landschaftsfraß auch den schlechten Brennwert: Braunkohle besteht zu 50 Prozent aus Wasser.
In der Lausitz steht also das Ende eines Zeitalters an. Eine mehr als 200-jährige Epoche, in der die Menschen eine klare Aufgabe hatten: Sie produzierten den Strom für Deutschlands Osten, für die Metropolen Leipzig, Dresden und Berlin. Ein wenig von deren Glanz fiel auf den Landstrich in ihrer Mitte. Die Lausitz wurde zu einem Industrierevier mit großen Fabriken in kleinen Städten. Die hohen Löhne zogen Menschen aus dem ganzen Land an. Aber der Preis für den bescheidenen Wohlstand war und ist hoch. Die Bagger haben die Lausitz zerlöchert, 137 Dörfer verschwanden in den Tagebauen – auf Bergbaudeutsch sagt man: Sie wurden überbaggert. Die Löcher bleiben. Aber was wird aus dem Wohlstand, wenn die Bagger ihre Arbeit einstellen?
Dass die erneuerbaren Energien den Platz der Braunkohle einnehmen könnten, glauben hier nur wenige
Reiner Hanisch war einer von denen, die geschuftet haben, damit in den Städten die Lichter nicht ausgehen. Bis 1994 arbeitete er im Tagebau Greifenhain. Er war Maschinenfahrer, bediente Raupen und Bagger. Im Schichtbetrieb, im Sommer wie im Winter. Auch im Winter 1978/79 war er dabei, als die Bergleute gegen den plötzlich hereinbrechenden Winter kämpften, und die DDR kurz vor dem Blackout stand. „Wenn man nicht aufpasst als Mensch, dann siegt die Natur“, sagt Hanisch.
Aber manchmal kann man noch so sehr aufpassen, trotzdem siegen ganz andere Kräfte. Der Systemwechsel war so eine Kraft. 1994 verließ der letzte Kohlezug den Tagebau Greifenhain. Die DDR gab es da längst nicht mehr, die Bundesrepublik konnte auf den schmutzigen Braunkohlestrom verzichten. Der Tagebau wurde ein See. Für Hanisch gab es in der Wirtschaft keinen richtigen Platz mehr, dabei stand er doch mitten im Leben. Was der Lausitz nun bevorsteht, das hat er schon hinter sich – den Bruch mit allem, was war. Er klagt nicht, und er sagt auch nicht, dass es immer weitergehen soll mit der Kohle. Aber er hat so seine Fragen. „Man sollte schon wissen, wo der Strom denn in Zukunft herkommen soll“, sagt Hanisch.
Viele Leute in der Lausitz, die man nach dem Kohleausstieg fragt, antworten mit dieser Gegenfrage: Was kommt denn stattdessen? Selbstlosigkeit schwingt darin mit – es geht doch nicht um uns, es geht doch um das Ganze. Aber auch Trotz: Na, dann schaut doch mal, wie ihr ohne uns klarkommt. Dass die erneuerbaren Energien den Platz der Braunkohle einnehmen könnten, glauben hier nur wenige. Oder sie wollen es nicht wahrhaben, je nach Betrachtungsweise.
„Wer in der falschen Fabrik oder im falschen Tagebau arbeitete, hatte eben Pech“
Der alte Bahnhof von Welzow ist eines der am schönsten renovierten Gebäude im Ort. Die Schienen sind seit Jahrzehnten weg, heute ist das Stationsgebäude der Sitz des Welzower Bergbau-Tourismusvereins. Vor der Tür stehen drei geländegängige Kleinbusse, sie bringen Besuchergruppen in den Tagebau, selbst eine Tour mit dem Titel „Sonnenuntergang im Tagebau“ ist im Angebot – Romantik findet sich auch dort, wo man sie am wenigsten erwartet.
Drinnen im ehemaligen Güterschuppen nimmt Siegfried Laumen an einem der langen Besprechungstische Platz. Er arbeitet als Planer bei der Braunkohlegesellschaft Leag. Einen Großteil seiner Zeit verbringt er mit dem Verein. Wenn man ihn als Botschafter der Braunkohle bezeichnet, erhebt Laumen keine Einwände. Er hat eine leise, tiefe Stimme und überlegt meistens einen Moment, bevor er eine Frage beantwortet. Ob er die Entscheidung für den Kohleausstieg richtig findet, darüber muss er aber nicht lange nachdenken. „Niemand kündigt seine Wohnung, ohne eine neue zu haben“, sagt er.
Laumen hat sein ganzes Berufsleben im Bergbau verbracht. Von der Bergbauakademie in Freiberg kam er direkt in die Lausitz. Dass die Kohlewirtschaft zu DDR-Zeiten in einem katastrophalen Zustand war, sei allen klar gewesen, sagt er. Trotzdem gab es nach der Wende Hoffnung. Darauf, dass Leistung im neuen System höher honoriert wird. „Stattdessen war es wie Würfeln. Wer in der falschen Fabrik oder im falschen Tagebau arbeitete, hatte eben Pech.“ Laumen hatte Glück. Noch mit Ende 30 war er einer der Jüngsten in seiner Abteilung – weil nach ihm niemand mehr angestellt wurde.
Es scheint, als könnte sich die Geschichte wiederholen
Schon dieser erste Strukturwandel war schwer zu verstehen für diejenigen, die er betraf. Jetzt kommt der zweite, und es scheint, als könnte sich die Geschichte wiederholen. An Geld soll es – auch dieses Mal – nicht mangeln. 18 Milliarden Euro an Strukturmitteln haben die Landesregierungen von Brandenburg und Sachsen für die Lausitz herausverhandelt, manchen sagen auch: ertrotzt. Die Summe ist beinahe aberwitzig. Rund 8000 Arbeitsplätze werden in der Lausitzer Kohlewirtschaft verschwinden. Für den Ersatz jeder dieser Stellen sollen also zweieinhalb Millionen Euro an Subventionen bereitstehen. Aber wofür?
„Es wird heute ganz leichtfertig gesagt, man muss Industrien hierher holen“, sagt Siegfried Laumen. „Aber wenn man das tut, dann nimmt man ja woanders etwas weg.“ Und was sollen das für Industrien sein, die ihren Standort in die Lausitz legen, wo in den nächsten 20 Jahren die Zahl der Bewohner im arbeitsfähigen Alter um ein Drittel schrumpft? Eine Batterieherstellung für Elektroautos, lautet ein Vorschlag des Bundeswirtschaftsministeriums. Hat ja auch was mit Strom zu tun, scheint die Überlegung dahinter zu sein.
Schon in den 90er-Jahren setzte Brandenburg auf große Ansiedlungen, um die Regionen fernab von Berlin wirtschaftlich zu beleben. Es kamen drei Flops dabei heraus. Frankfurt/Oder bekam die Chipfabrik, die Lausitz bekam die Cargolifter-Halle und den Lausitzring. Die Luftwerft ging nie in Betrieb, ist heute ein Spaßbad. Die Rennstrecke ist in der Zwischenzeit pleitegegangen. Heute gehört der Lausitzring der Dekra, sie ist dabei, ihn in eine Teststrecke für autonome Autos zu verwandeln. Für Maschinen also, die ohne Menschen auskommen – man muss sehr optimistisch sein, um darin kein Sinnbild für die Entwicklung der Lausitz zu entdecken.
Hafenfest im Mai
Ein paar Kilometer entfernt entsteht mit der Flutung der Tagebaulöcher das Lausitzer Seenland. Aus der Not heraus – zuschütten kann man die Tagebaulöcher nicht, trocken halten auch nicht – soll hier eine künstliche Seenplatte wachsen, Naherholungsgebiet für Dresden und Leipzig. In Großräschen empfängt seit 2007 schon das Vier-Sterne-„Seehotel“ seine Gäste. Es gehört Gerold Schellstede, Zuwanderer aus Oldenburg und Inhaber eines Möbelhauses.
Als er Anfang der Neunzigerjahre hierher kam, war der Tagebau Meuro noch in Betrieb. Heute schlagen kleine Wellen an den befestigten Hang der einstigen Kohlegrube, vor Schellstedes Hotel gibt es ein Hafenbecken. Er ist 79 Jahre alt und unverdrossen. Sein Hotel hat all die Jahre auch ohne See funktioniert, 70 Prozent Auslastung hat er in seinen 62 Zimmern. Und alles wird noch besser, denn im Mai soll der Hafen eröffnet werden, nach mehrfacher Verschiebung. „Das wird funktionieren, das sage ich ruhigen Gewissens“, versichert Schellstede. Sogar Gäste aus Westfalen hätten zum Hafenfest Zimmer reserviert.
Aber wenn man sich den Hafen genau anschaut, kommen Zweifel. Nach Angaben der Rekultivierungsgesellschaft LMBV ist der Wasserstand im Großräschener See einen Meter niedriger, als er sein sollte. Das vorige Jahr war zu trocken und zu heiß, die Spree führte zu wenig Wasser, um auch noch welches an die alten Tagebaue abzugeben. Ein weißer Streifen an den rostbraunen Spundwänden im Hafen zeigt, dass das Wasser sogar wieder gesunken ist. Die schwimmenden Bootsstege liegen so tief im Wasser, dass die neuen Brücken zum Kai wie Rutschen nach unten führen. Auf Nachfrage teilt die LMBV mit, dass der Hafen wohl auch dieses Jahr nicht richtig eröffnet, auch wenn es ein Hafenfest gibt. Nächstes Jahr sei damit zu rechnen.
Nicht einmal die sind zufrieden, für die das Ende der Tagebaue nicht früh genug kommen kann
Ob die Entwicklung besser verläuft, wenn die Milliarden für die Kohlekompensation fließen? Im Anhang des Berichts der Kohlekommission findet sich eine Liste mit Projektvorschlägen der Landesregierungen. Sie umfasst 58 Seiten und alleine für Brandenburg 174 höchst unterschiedliche Vorhaben. Eine Koordinierungsstelle für sorbische Volkskultur soll eingerichtet werden, der See Cottbusser Ostsee soll einen Wanderweg bekommen und die Bahnstrecke Cottbus–Lübbenau ein zweites Gleis – womit wieder der Vorkriegsstandard erreicht wäre.
Anruf bei einem, der die Lausitz und ihre Wirtschaft gut kennt. Was er auf die Liste gibt? „Wenn man viel jammert, kriegt man viel Geld“, sagt er. Und dann müsse man solche Listen schreiben, um zumindest den Anschein zu erwecken, man hätte einen Plan. Aber es gebe keinen.
Nicht einmal die sind zufrieden, für die das Ende der Tagebaue nicht früh genug kommen kann. Zwischen Großräschen und Welzow liegt Proschim, ein Straßendorf mit Backsteinhäusern, einer Kirche und einem großen landwirtschaftlichen Betrieb. Dessen Inhaberin, Petra Rösch, ist die Ortsvorsteherin. Jahrelang hat sie gegen die Pläne der Bergbauunternehmen – erst die schwedische Vattenfall, jetzt die tschechische Leag – gekämpft, den Tagebau Welzow nach Südwesten hin zu erweitern. Proschim sollte 2024 überbaggert, also zerstört werden.
Sie möchte nicht mehr reden über das Thema, sagt Rösch am Telefon. „Was haben wir nur verbrochen, dass wir unsere Zeit jahrelang opfern mussten, um für unser Dorf zu kämpfen?“ Sie glaube nicht, dass Proschim weichen müsse – auch wenn in der sächsischen Lausitz gerade die Abbaggerung des Dorfs Mühlrose beschlossen wurde. Aber dass ihr Dorf anders als der Hambacher Forst im Bericht der Kohlekommission mit keinem Wort erwähnt wird, das schmerzt. Aus Proschim stammt auch das einzige Mitglied der Kommission, das gegen den Bericht stimmte, die Kommunalpolitikerin Hannelore Wodtke. Hätte sie dafür gestimmt, dann hätte sich das wie Verrat an ihrem Dorf angefühlt, sagte sie anschließend.
Der Weg zu Adrian Rinnert führt am Kraftwerk Schwarze Pumpe vorbei. Kurz dahinter überquert man auf maroden Brücken die beiden Arme der Spree. Weiter flussaufwärts muss sie Wasser aus den stillgelegten Tagebauen aufnehmen, das voller Eisenoxid ist und den Fluss rot-braun färbt. Verockerung heißt das, noch so eine sprachliche Schönfärberei. Treffender wäre die Feststellung: Der Fluss, für Berlin eine der wichtigsten Trinkwasserquellen, ist an seinem Oberlauf ökologisch tot.
Spreetal ist die Gemeinde, in der Gerhard Gundermann am Ende seines kurzen Lebens lebte, der singende Baggerfahrer, der seine Lieder aus dem Tagebau in die kleine DDR trug. Es ist eine Ansammlung von Dörfern, eingeklemmt zwischen Tagebau und Kraftwerk. Adrian Rinnert, aufgewachsen in Neukölln, ist vor acht Jahren hierhergekommen, zusammen mit seiner damaligen WG, vier Erwachsene und mittlerweile zwei Kinder. Das Haus, das sie bewohnen und mühsam Stück für Stück renovieren, liegt im Wald unterhalb der Straße.
Eigentlich wollten sie ein Seminarhaus aufbauen in der verfallenen Fabrik, nach der sie ihren Verein benannt haben: „Eine Spinnerei“. Es sollte ein Treffpunkt werden für Menschen, die eine andere, eine ökologischere Gesellschaft wollen – auch in der Lausitz. Aber mit dem Vorhaben ist es nicht recht vorangegangen, auch wenn die Genehmigung erteilt ist, Teile des Baumaterials bereitliegen. „Das wird auch nicht besser im Regen“, grummelt er. Aber seine Mission ist eben gewachsen. „Wir wollen die Lebensgrundlagen hier erhalten“, sagt Rinnert.
Das Engagement der Menschen zu wecken, das ist die wahre Herausforderung
Wo fängt man da an, wo hört man da auf? Rinnert ist ein hochgewachsener Mann, der schnell redet, wenn er sich aufregt, und er regt sich schnell auf, wenn er über seine Wahlheimat redet. 34,8 Prozent bekam die AfD in Spreetal bei der Bundestagswahl, die Grünen holten 1,6 Prozent. „Wer hier etwas bewegen will, der bekommt auf die Finger“, sagt Rinnert. Er nimmt das in Kauf, es gibt so viel, was er bewegen möchte, das Engagement ist für ihn zur Vollzeitbeschäftigung geworden.
Der Bach hinter der alten Spinnerei etwa, die Struga, ist tot. Das hat wahrscheinlich mit Tagebauabwässern zu tun, vielleicht auch mit einer Halde. Rinnert wüsste es gern genauer, die Behörden offenbar nicht. „Die werden dem Betreiber keine Auflagen erteilen.“ Irgendwann sei der Betreiber dann weg, weil keine Kohle mehr gefördert wird. Und dann bliebe die Gesellschaft auf dem Schaden sitzen – eine Rücklage für die Sanierung der heutigen Tagebaue gibt es nämlich bislang nicht.
Wozu soll er ein Öko-Tagungszentrum aufbauen, wenn dahinter ein Gewässer stirbt und sich keiner drum kümmert, fragt Rinnert. Es sei ein Problem der Strukturen, sagt er. Und wer die ändern wolle, der müsse mit den Menschen arbeiten.
Und das ist wohl die wahre Herausforderung für alle, die die Lausitz entwickeln wollen – das Engagement zu wecken in einer Gesellschaft, die jahrzehntelang von harter Arbeit lebte und daraus ihre Rechtfertigung zog. Die Ziegel hinter Adrian Rinnerts Haus werden wohl noch eine Weile liegen bleiben. Es gibt jetzt Wichtigeres zu tun.