Engagement für Obdachlose: Wie sich eine Brandenburgerin für den verstorbenen Uwe M. aus Oranienburg einsetzt

Die Papiertüte ist zerknüllt, alt und benutzt. „TOE/0051392/2019“, steht darauf, in ungelenker Kugelschreiberschrift auf braunem Papier. TOE steht für Todesermittlungsverfahren. Unter der Zeile mit den drei Buchstaben und den Ziffern sind die Gegenstände aufgeführt, die sich in der Tüte befinden: Uhr, Handy, Portemonnaie, Plastikpistole. Mehr ist von Uwe M. nicht übrig geblieben.

Am Nachmittag des 13. Februar hatte ein Spaziergänger die Polizei zum Bahndamm am Güterbahnhof von Oranienburg im Landkreis Oberhavel gerufen. In einem Zelt hatte er einen leblosen Mann gefunden: Uwe M., 57 Jahre alt, seit mehr als 20 Jahren obdachlos. Um 16.21 Uhr stellte ein Arzt den Tod des Mannes fest. Uwe M. stammte aus Oranienburg.

Die Tüte mit den letzten Habseligkeiten des obdachlosen Mannes steht nun auf dem Wohnzimmertisch von Janette Budtke in Borgsdorf. Die Polizei hat ihr die Habseligkeiten übergeben, weil sie die einzig feste Bezugsperson für Uwe M. war. Die 37-Jährige greift in die Tüte. Zuerst holt sie ein Smartphone heraus. Mit der „Spidermann-App“, wie Janette Budtke sagt. Das Display ist schwarz und zersprungen. Die Risse ziehen sich wie ein Spinnennetz über das Glas.

Ohne Janette Budtke würde Uwe M. wohl in einem anonymen Grab beigesetzt werden

Es folgt eine schwarze Plastikpistole, deren Griff von grauem Klebeband zusammengehalten wird. „So etwas brauchst du als Obdachloser, um dich zu schützen“, klärt Janette Budtke auf. Die Digitaluhr funktioniert noch. Das schwarze Portemonnaie lässt sie geschlossen, um dann alles wieder nacheinander in die Tüte zurückzulegen. Uhr, Handy, Portemonnaie, Plastikpistole.

„Mit Uwe hat alles angefangen. Mit ihm hört alles auf“, sagt Janette Budtke, die in ihrem Haus einen Friseursalon betreibt. An den Wänden im Wohnzimmer hängen Fotos ihrer Kinder. Budtke ist alleinerziehende Mutter zweier drei und elf Jahre alter Mädchen. Mit dem Anfang und dem Ende meint sie ihr Engagement für Arme und Bedürftige. Für Obdachlose wie Uwe. Und würde es sie und die von ihr gegründete Organisation, die Charity Banditen, nicht geben, dann würde Uwe M. wohl in einem vom Sozialamt bezahlten anonymen Grab beigesetzt werden – ohne Trauerfeier, ohne Menschen, die ihn auf seinem letzten Weg begleiten, ohne Blumen. Uwe M. wäre einfach weg. Das konnte Janette Budtke nicht akzeptieren.

„Ich wollte ihm wenigstens ein Gesicht geben. Wollte, dass sich Menschen an ihn erinnern“

An jenem Mittwoch, als die Leiche des Obdachlosen in dem Zelt aufgefunden wurde und Janette Budtke um 22.01 Uhr die telefonische Nachricht von Uwes Tod erhielt, hatte die Frau, die sich so häufig um den Obdachlosen gekümmert hatte, ein schlechtes Gewissen. „Ich habe um Uwe geheult und nur gedacht: Mist, ich hatte in den letzten Tagen keine Zeit für ihn“, erzählt sie. Die Tränen schießen ihr dabei in die Augen. Uwe M. war tot, und Janette Budtke meint, sie sei nicht da gewesen, als er sie brauchte. Sie, die ihm immer geholfen hatte, so gut es ging, die ihn besuchte, wann immer es ihre Zeit erlaubte.

Einen Tag nach Uwes Tod startete sie einen Spendenaufruf. Sie sammelte Geld, um Uwes letzten Weg wenigstens würdig zu gestalten. Den sollte nicht das Amt finanzieren. Uwe sollte, so stellte es sich Janette Budtke vor, in seiner Heimatstadt Oranienburg beerdigt werden. Und nicht auf einem der Friedhöfe in der Umgebung, wo eine Bestattung preiswerter ist. Sie wollte die Trauerrede in der Kapelle halten, weil sie Uwe am besten kannte. Vor einer von ihr ausgesuchten Urne mit der Asche des Toten. Mit bunten Frühlingsblumen und Musik von Metallica, die Uwe so gern gehört hatte. Mit einem Foto des Verstorbenen. Uwe sollte nicht als Obdachloser begraben werden. „Ich wollte ihm wenigstens ein Gesicht geben. Wollte, dass sich Menschen an ihn erinnern. An Uwe, den wohl jeder in Oranienburg kannte.“

Es dauerte keine 72 Stunden und das Geld für die Bestattung auf dem Oranienburger Friedhof war zusammen gekommen: 3142 Euro. „Es war der helle Wahnsinn, wie viele Menschen helfen wollten. Wie groß die Anteilnahme war“, freut sich Janette Budtke noch heute. Die Meldung von der kurzen, erfolgreichen Spendenaktion ging durch die Medien. Schon am Montag nach Uwes Tod war Janette Budtke beim Bestatter.

Janette Budtke hatte keine Berührungsängste

Janette Budtke und Uwe M. lernten sich vor mehr als vier Jahren kennen. Damals, sagt die Friseurmeisterin, hatte sie ihr Leben in den Griff bekommen. Sie hatte ihren Meister gemacht, keine finanziellen Sorgen und eine kleine Tochter. Sie wohnten in einem Haus. „Ich wollte etwas Soziales tun“, sagt die 37-Jährige. Auch anderen etwas abgeben von ihrem Glück. Weil ihr Leben auch hätte anders verlaufen können, als es verlief. Weil sie auch hätte auf der Straße landen können, wie sie erzählt.

Also ging die Friseurmeisterin zusammen mit zwei Kolleginnen im Jahr 2014 das erste Mal ins Obdachlosenheim in der Bernauer Straße in Oranienburg. Es war kurz vor Weihnachten und sie wollten mit dem helfen, was sie konnten: Sie schnitten oder färbten den Bewohnern des Hauses kostenlos die Haare.

Dort traf Janette Budtke das erste Mal auf Uwe M. Er sei, wie er damals Janette Budtke sagte, schon eine Ewigkeit nicht mehr beim Friseur gewesen. Wovon auch, wenn das Geld nicht da ist? Budtke verpasste dem obdachlosen Mann den ersten professionellen Haarschnitt seit Jahren. Es gibt Fotos von diesem Friseurbesuch. Fotos, auf dem ein lachender Uwe M. und eine schmunzelnde Janette Budtke zu sehen sind.

Sie hatte keine Berührungsängste, keine sonst in der Gesellschaft so weit verbreiteten Ressentiments gegen Obdachlose. Sie lehnte es ab, den Bewohner des Heims mit Handschuhen gegenüberzutreten. „Das sind schließlich Menschen“, begründet sie. Sie habe den Leuten im Obdachlosenheim mit den Haarschnitten etwas ihrer Würde zurückgegeben.

Die Zeitungen aus der Region nannten sie den „Engel von Borgsdorf“

Seitdem ging Janette Budtke regelmäßig zum Haareschneiden ins Heim, sie gründete 2016 die Charity Banditen, eine Organisation, die uneigennützig armen Menschen half, Kleider, Lebensmittel und auch Geld sammelte, um davon Herzenswünsche zu erfüllen. Ein Jahr später veranstalteten die ehrenamtlichen Helfer der Charity Banditen erstmals „Ein Zeichen des Miteinanders“ – ein Fest für Obdachlose, von Armut betroffene Menschen, für Alleinerziehende und Flüchtlinge.

220 Menschen kamen in jenem November in die Stadthalle von Hohen Neuendorf. Auch Uwe M. war dabei. Sie erhielten ein Festessen und Geschenke, die sie sich zuvor gewünscht hatten. „Es waren erfüllbare, meist ganz anrührende Herzenswünsche“, wie Janette Budtke sagt. Sie erinnert sich an ein Mädchen aus dem Kinderheim, das sich ein Plüsch-Einhorn gewünscht hatte, um nicht mehr alleine schlafen zu müssen. Uwe M., der in einem ehemaligen Konsum eine kleine Wohnung gefunden hatte, bekam einen Flachbild-Fernseher.

Die Zeitungen aus der Region nannten Janette Budtke damals den „Engel von Borgsdorf“. Fernsehsender berichteten über die engagierte Frau. Hohen Neuendorf, zu der Borgsdorf gehört, verlieh ihr für das Engagement der Charity Banditen den Ehrenamtspreis der Stadt.

„Er war ein ganz lieber Kerl, mein Herzmensch“

Janette Budtke besuchte Uwe M. alle zwei Wochen in seiner kleinen Wohnung, manchmal einfach nur um zu quatschen, manchmal holte sie ihn zum Eisessen ab oder ging mit ihm auf den Weihnachtsmarkt. Sie sagt, dass Uwe nicht mehr so viel Alkohol getrunken habe.

Auf die Frage, warum sie sich soviel um einen doch eigentlich Fremden gekümmert habe, zuckt sie nur die Schultern. Sie glaubt, dass das ein wenig mit ihrer eigenen Biografie zu tun habe. Sie ist in einer Brandenburger Stadt groß geworden, sollte Kommunikationsfachangestellte werden. Das war der Wunsch ihrer Eltern.

Doch Janette Budtke hatte da schon ihre eigene Vorstellung von ihrem Leben. Sie bewarb sich heimlich auf eine Friseur-Lehrstelle. Das war ihr Traumberuf. Mit 16 zog sie zu Hause aus, machte bei Freunden Couchhopping, wie sie es nennt. Die Lehre ließ sie schleifen. Und wenn sie nicht eine wirklich engagierte Lehrausbilderin gehabt hätte, die ihren Ehrgeiz weckte, wäre sie wohl abgerutscht, wie Janette Budtke heute zugeben muss. „Meine Lehrausbilderin hat immer an mich geglaubt. Sie hat mir Feuer unter den Hintern gemacht. So jemanden brauchst du im Leben. So jemanden hatte Uwe nicht“, sagt sie.

Janette Budtke ist nach der Lehre durch ganz Deutschland gewuselt. Sie hat in Hamburg gearbeitet, in Hannover, in Berlin. Sie hat es sogar zum Haareschneiden nach Kuwait verschlagen. Bis sie durch Zufall in Borgsdorf dieses Haus zur Miete fand und vor elf Jahren dort endlich angekommen ist in ihrem Leben.

Soviel Glück hatte Uwe M. nicht. Janette Budtke weiß nicht viel von ihm. Dass er lange Zeit bei seiner Mutter gelebt und noch Geschwister hat. Dass er zu DDR-Zeiten im Stasi-Gefängnis gesessen haben soll. Warum, das habe sie nie aus ihm herausbekommen. Er saß offenbar auch nach der Wende in Haft, weil er mehrfach betrunken auf dem Fahrrad erwischt worden war. Er sei ein Wiederholungstäter, hatte er einmal einer Zeitung erzählt. Vor nicht allzu langer Zeit erhielt Uwe M. Bypässe, auch das ist Janette Budtke bekannt. Ebenso, dass er Betonbauer war, dass er Diabetes hatte und auch ein Alkoholproblem. Dass er immer charmant gewesen und der Konfrontation aus dem Weg gegangen sei. Uwe sei ein sensibler Mann gewesen, der auch mal geweint habe. „Er war ein ganz lieber Kerl, mein Herzmensch“, sagt Janette Budtke.

Sie glaubte, Uwe den Lebensmut zurückgegeben zu haben – bis der Absturz kam

Sie glaubte eigentlich, Uwe den Lebensmut zurückgegeben zu haben. Mit den eigenen vier Wänden, mit einem Fernseher und sogar einem gespendeten Motorroller. Sie war optimistisch, dass Uwe sein Leben immer besser in den Griff bekommen würde.

Bis sein Handy ausgeschaltet war, bis der Absturz kam. Janette Budtke kann den Tag noch genau datieren. Es war der 15. September vergangenen Jahres. Da sei Uwe bei einem Kumpel untergeschlüpft und habe wieder richtig mit dem Trinken angefangen. Seitdem sah Janette Budtke ihn immer seltener vor Nahkauf oder Kaufland stehen, dort wo er tagsüber meist zu finden war.

Wann sie das letzte Mal mit Uwe sprach, weiß sie heute nicht mehr genau. Vielleicht, so spekuliert sie, habe sich Uwe geschämt für seinen Absturz. Vielleicht aber habe er sich auch im Stich gelassen gefühlt und sich deswegen unerreichbar für ihre Hilfe an diesen Bahndamm zurückgezogen. Janette Budtke erzählt, dass sie im Januar angekündigt hatte, sich aus ihrer ehrenamtlichen Arbeit zurückzuziehen. Weil ihr die Kraft fehle. Weil sie alleinerziehende Mutter sei. Sie hat auch ihren Ehrenamtspreis zurückgegeben. Dann starb Uwe. In einem Zelt im Niemandsland. Bei nächtlichen Temperaturen etwas über dem Gefrierpunkt.

Der zuständige Staatsanwalt in Neuruppin sagt, dass Uwe M. nicht erfroren sei. Und dass er auch nicht an einer Alkoholintoxikation verstarb. Er berichtet, dass das Zelt seit einer Woche am Bahndamm gestanden habe. Uwe M. müsse zudem schon mehrere Tage tot gewesen sein, als seine Leiche gefunden worden sei.

Janette Budtke war nach Uwes Tod in seiner kleine Wohnung, die ausgesehen habe, „als hätte Uwe gerade geputzt“. Sie fand all seine Medikamente, die er hätte einnehmen müssen. Sie fand ungeöffnete Post, Mahnungen, Schreiben eines Inkasso-Unternehmens. Janette Budtke hat sich mittlerweile einen Ordner angelegt, in denen sie Uwes Unterlagen abgeheftet hat.

An einem der vergangenen Tage steht Janette Budtke auf Oranienburger Friedhof. Sie will sehen, wo Uwe beerdigt wird. Sie geht in die kleine Kapelle, in der 50 Trauernde Platz haben und in der es eine halbstündige Trauerfeier für Uwe geben wird. Janette Budtke hat sich mittlerweile dazu entschlossen, doch nicht die letzten Worte zu sprechen. „Ich schaffe das nicht“, sagt sie. Am kommenden Montag ist sie mit einer Trauerrednerin verabredet.

Am Sonnabend wird Uwe M. beigesetzt.