Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, überall in Berlin zu bauen
Berlin - Berlin wächst rasant. Die Einwohnerzahl ist von 2011 bis 2015 um 220.000 Menschen gestiegen. Weitere 145.000 werden laut jüngster Prognose bis 2020 folgen. Beim Stadtforum wird am Montag darüber diskutiert, wie das Leben und Wohnen gestaltet werden soll. Mit dabei ist Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel (SPD). Er sagt im Interview, was er erwartet und worauf es jetzt ankommt.
Herr Geisel, jeder Mensch hat laut Berliner Verfassung das Recht auf angemessenen Wohnraum. Ist dieser Anspruch in Anbetracht des starken Zuzugs einzulösen?
Ja, selbstverständlich. Und es ist mein Ziel, dies sozial gerecht zu gestalten. Wir müssen beachten, dass wir auf ziemlich hohem Niveau diskutieren. Nehmen Sie allein die Wohnungsgrößen. Wenn wir uns in Berlin umschauen, wohnen wir außerordentlich komfortabel. Sowohl im nationalen als auch im internationalen Vergleich mit etwa 39 Quadratmetern pro Person, während in Paris 20 Quadratmeter Standard sind und in New York 9.
Was steht beim Stadtforum im Mittelpunkt?
Es geht darum, wie wir in einer Phase des großen Drucks auf dem Immobilienmarkt agieren müssen. In asiatischen Städten ist das Wachstum noch viel stärker als in Berlin. Aber die Art und Weise, in der Städte dort entstehen, ist oftmals höchst undemokratisch. Das will ich nicht für Berlin. Wenn wir aber an alten Mustern festhalten – an jahrelangen Planungsdiskussionen oder der Ausrichtung internationaler Bauausstellungen mit zehnjähriger Vorbereitungszeit – werden wir den aktuellen Herausforderungen nicht gerecht. Wir müssen die Diskussion führen: Wie schaffen wir es, schnell Wohnungen mit Qualität zu errichten, die bezahlbar sind?
In Berlin sollen 20.000 neue Wohnungen pro Jahr entstehen. Wer soll die errichten?
Wir gehen davon aus, dass 6000 Wohnungen durch die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften errichtet werden und 14.000 von Privaten. Die landeseigenen Unternehmen sollen preiswerte Wohnungen errichten. Über die Wohnungsbauförderung möchten wir auch die Privaten daran beteiligen. Unsere politische Aufgabe ist es, mit ihnen darüber zu diskutieren und sie zu überzeugen, nicht nur hochwertige Eigentumswohnungen zu bauen.
Welche Rolle spielen die Genossenschaften?
Eine sehr wichtige. Die Genossenschaften wirken mietpreisdämpfend, sie bieten Wohnraum besonders preiswert an. Deswegen wollen wir die Genossenschaften stärker in unsere Wohnungsneubauoffensive einbinden. Es geht vor allem um die Grundstücksvergaben. Wir haben ein Modell entwickelt, wie wir landeseigene Grundstücke direkt an Genossenschaften vergeben können. Voraussetzung ist, dass bestehende Genossenschaftswohnungen in unmittelbarer Nähe liegen und sie sich verpflichten, innerhalb von drei Jahren neu zu bauen. In München gibt es ein Modell der Genossenschaftsförderung, das wir uns im Stadtforum genauer anschauen wollen.
Es gibt Anwohnerproteste gegen den Bau neuer Wohnungen. Mit welcher Strategie wollen Sie die Bürger überzeugen, dass der Neubau nötig ist?
Theoretisch hat jeder verstanden, dass wir neue Wohnungen bauen müssen, wenn wir die Menschen unterbringen wollen, die zu uns kommen. Ich rede nicht nur von geflüchteten Menschen. Wir brauchen neuen Wohnraum auch für die Berliner. Problematisch ist, dass viele Bürger neue Wohnungen nicht in ihrer Nachbarschaft haben wollen. Wir brauchen einen Bewusstseinswandel. Berlin wird bis 2030 um 400.000 Menschen wachsen. Dieses Wachstum kann nicht unauffällig geschehen. Aber es bietet Chancen. Mehr Menschen heißt: mehr Arbeitsplätze, mehr Steuereinnahmen, mehr Geld, das wir für Kitas, Schulen, Infrastruktur zur Verfügung haben. Es ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, dass überall gebaut wird. Und zwar dichter und höher, damit wir das wertvolle Gut Boden schonen und die grünen Qualitäten Berlins erhalten.
Kann es gelingen, die Menschen für Neubau zu gewinnen, wenn sie sehen, dass sie profitieren, etwa durch Angebote für betreutes Wohnen?
Ja, das ist ohnehin eine der nächsten Herausforderungen. Wir werden alle älter und brauchen eine altersgerechte Stadt. Das bedeutet, dass wir viel mehr barrierefreie Wohnungen brauchen. Wir setzen auch darauf, die bestehenden Wohnungen zu schützen. So werden wir zweckentfremdete Wohnungen, die zurzeit lukrativ nur an Feriengäste vermietet werden, wieder dem Wohnungsmarkt zuführen.
Es soll schnell und preiswert gebaut werden. Dabei ist die Rede vom Bauen mit vorgefertigten Elementen. Entstehen neue Plattenbauten?
Plattenbauten sind ja nicht per se schlecht. Sie haben eine hohe Wohnqualität und sind beliebt bei den Menschen, die darin wohnen. Das Problem liegt im monotonen Städtebau. Die Herausforderung ist deshalb die Frage, wie wir eine hohe städtebauliche und architektonische Qualität der Neubauten erreichen. Ob Gebäude seriell vorgefertigt werden oder nicht, ist zweitrangig. Wenn es dazu dient, die Baukosten zu senken und die Mieten niedrig zu halten: umso besser.
Sie setzen auf den Bau von 50.000 Wohnungen in zehn Neubau-Siedlungen. Dabei sollen zunächst Wohnungen für Flüchtlinge entstehen, weil es dafür schneller Baurecht gibt. Wie stellen Sie sich das vor?
Es geht nicht nur um die Unterbringung von Flüchtlingen. Es geht um gemischte Wohnquartiere, um vernünftige Integration und sozial gerechte Stadtentwicklung. In künftigen Siedlungen wie Kurt-Schumacher-Quartier und Elisabethaue könnte der Wohnungsbau nach normalem Planungsrecht 2019 oder 2020 starten. Wir überlegen, was wir tun können, um schneller zu sein. Durch das erleichterte Baurecht ist es möglich, zunächst Häuser für Flüchtlinge zu errichten und die übrigen Wohnhäuser anschließend mit „normalem“ Planungsrecht als Erweiterung zu bauen.
Diskutiert wird über modulare Unterkünfte für Flüchtlinge. Es liegen ein architektonisch sehr schlichter Amtsentwurf und deutlich attraktivere Vorschläge des Architekturbüros Graft vor. Ist mehr Vielfalt denkbar?
Selbstverständlich ist das möglich und auch wünschenswert. Der Amtsentwurf hat drei Vorteile: er ist realistisch, funktional und preiswert. Außerdem ist er schnell zu errichten. Das ist wichtig, um schnell die Sporthallen freiziehen zu können, die jetzt noch als Notunterkünfte dienen. Jetzt folgen verschiedene Ausschreibungen, die beim Bau der modularen Unterkünfte für Flüchtlinge mehr Vielfalt zulassen.
Sie haben die Wohnungsbauförderung verdreifacht. 2017 soll der Bau von 3000 Sozialwohnungen gefördert werden. Wie viele Sozialwohnungen wollen Sie künftig errichten?
Ich gehe davon aus, dass wir 2018 etwa 5000 Sozialwohnungen brauchen. Die Diskussion darüber wird bei der Aufstellung des nächsten Landeshaushalts geführt. Um eine heterogene Bewohnerschaft zu erhalten, bleibt es bei den Bauprojekten der landeseigenen Unternehmen bei dem Anteil von 30 Prozent Sozialwohnungen und bei den privaten Bauherren bei einem Anteil von 25 Prozent Sozialwohnungen.
Das Gespräch führte Ulrich Paul.