Berlin - Nicola Varns ist vierzehn, als sie sich verliebt. Sie kommt 1986 nach Nordrhein-Westfalen zum Schüleraustausch. Es ist ein Sommer, den sie nie vergessen wird. Trampen, Partys feiern, Bier trinken, ohne Uniform zur Schule gehen – alles, was zu Hause in England nicht erlaubt ist, darf sie hier. So beginnt ihre Liebe zur deutschen Kultur und zur deutschen Sprache.
Nicola Varns studiert Germanistik in Oxford, zieht 1997 nach Berlin, macht eine Firma auf. Sie fühlt sich wohl, die Stadt wird ihr Zuhause, ihr Freund ist Deutscher, nur vor einer Einbürgerung schreckte sie bisher zurück – bis die Europa-Feinde im Königreich ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzten.
Am kommenden Donnerstag wird über die Zukunft Großbritanniens abgestimmt, laut Umfragen liegen die EU-Gegner vorn. Zwar ist unklar, welche Folgen ein Ausstieg für die rund 10.000 in Berlin lebenden Briten hätte, doch viele wollen kein Risiko eingehen und bewerben sich um die Einbürgerung.
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So wie Nicola Varns. Als die britische Regierung im vergangenen Jahr ein Datum für das Referendum nannte, fing sie an, die Unterlagen für den deutschen Pass zusammenzutragen. „Ich habe Angst davor, dass das Bleiberecht revidiert wird und will auf Nummer sicher gehen“, sagt Nicola Varns auf Deutsch. Sie sitzt in einem Café in Mitte, sie ist 44 Jahre alt, Inhaberin einer Sprachschule und neuerdings Deutsche.
Im März hat sie ihren Pass erhalten, zwei Monate, nachdem sie die Papiere eingereicht hatte. Einen Sprachtest musste sie nicht ablegen, weil ihr Deutsch die Sachbearbeiterin im Bürgeramt Charlottenburg überzeugte, den Wissenstest füllte sie ohne Probleme aus. Sie sagt, die Einbürgerung sei ein feierlicher Moment gewesen.
Anders als in England muss man als Neu-Deutscher nicht die Nationalhymne singen, sondern einen Eid auf das Grundgesetz schwören. Nicola Varns erinnert sich noch genau daran. Sie hatte sich vor die Sachbearbeiterin hingestellt und mit klopfendem Herzen den Satz gesagt, dass sie das Grundgesetz und die deutschen Gesetze achten werde. Nicola Varns lacht, wenn sie sich daran erinnert: „Das war wie Deutschland heiraten.“
Den britischen Pass behält sie
Wenn die Einbürgerung eine Heirat ist, dann ist Nicola Varns wohl eine Ehe zu dritt eingangen. Ihren britischen Pass darf Nicola Varns behalten. Eine Abgabe wäre für sie wie Verrat gewesen, sagt sie. Sie hat viel über das oft schwierige deutsch-britische Verhältnis nachgedacht, und darüber, was es mit ihr macht, dass sie nun nach zwanzig Jahren in Berlin offiziell Deutsche ist.
Sie freut sich, dass nun endlich hier wählen darf. Aber ist sie nun weniger Britin, weil sie auch den deutschen Pass hat? Muss sie Kaffee statt Yorkshire Tea trinken? Sie betont, dass sie durch die Einbürgerung ihre Herkunft, ihre Geschichte nicht verloren habe. „Ich habe einen deutschen Pass, bin aber nicht deutsch“, sagt sie. Das höre man schon an ihrem Akzent. Sie sei stolz darauf, Britin zu sein, regelmäßig kauft sie englischen Tee und englisches Bier im Spezialitätengeschäft „Broken English“ in Charlottenburg. Manchmal wünscht sie sich die Deutschen etwas britischer, mit mehr Leichtigkeit, mehr Lust am Small Talk.
Wenn man sie fragt, wen sie beim Fußball anfeuert, sagt sie, sie findet die deutsche Mannschaft sympathisch, feuert aber auch die Engländer an. Je länger man mit Nicola Varns redet, desto mehr bekommt man den Eindruck, dass sie dieses Hin und Her zwischen den Kulturen, als Bereicherung empfindet. Sie fühlt sich ein bisschen britisch, ein bisschen deutsch, „the best of both worlds“, wie sie sagt.
Wäre Nicola Varns zwanzig Jahre jünger, ihre Liebe zu Deutschland hätte sich womöglich nie entwickelt. Die Labour-Regierung führte in den Neunzigern die Regel ein, dass Sprachenlernen ab 14 freiwillig ist, nur noch sehr wenige Schüler lernen Deutsch, das Interesse an Schüleraustausch ist gering.
Mit ihren Verwandten diskutiert die Sprachlehrerin viel über den möglichen Brexit. Sie ist erschrocken, dass ein Großteil der Briten inzwischen aus der EU heraus will und wie wenig ihre Landsleute über Europa wissen.
Neulich hat sie sich mit ihrem Cousin gestritten. Er war zu Besuch in Berlin und schwärmte, wie gut hier alles funktioniere, die Züge, das Schließen der Fenster, der Wasserdruck in den Duschen. Doch die Begeisterung übertrug sich nicht auf Europa. Beim Referendum wähle er den „Brexit“, sagte er, weil er sich um die Zukunft seiner Kinder sorge.
Da habe sie ihm erst mal erklärt, dass doch die Kinder vor allem unter einem Rückzug der Briten leiden würden: Sie wären womöglich sehr eingeschränkt bei der Wahl von Studien- und Berufsort. Mal eben ein Auslandssemester in Spanien? Dürfte schwieriger werden.
Auch ihre Mutter musste Nicola Varns überzeugen. Die sorgt sich seit Jahren, dass die Tochter ihre Wurzeln vergisst und packt ihr jedes Jahr Pakete mit Socken, Schokolade und Schals mit dem Union Jack, die die Tochter in Berlin ein wenig ratlos auspackt.
Mit einem Union-Jack-Schal durch Berlin laufen? Nein, soweit geht die Liebe dann doch nicht. Die Queen dient ihr nur als Fußabtreter, der vor ihrer Wohnungstür liegt. „Natürlich als Witz“, schiebt sie hinterher, zur Sicherheit. Man weiß ja, dass die Deutschen die Dinge leicht zu wörtlich nehmen.
Zurück in die Karibik
Melody Howse, 37, mit karibisch-schottisch-französischen Wurzeln, kann es gar nicht abwarten Deutsche zu werden. Die Dokumentarfilmerin beneidet Landsleute wie Nicola Varns, die lange genug in Deutschland leben, um sich einbürgern zu lassen. Da man erst nach etwa acht Jahren einen deutschen Pass beantragen kann, muss Melody Howse noch vier Jahre warten. „Das habe ich schon recherchiert“, sagt sie auf Englisch. Ihr Deutsch ist noch nicht gut genug.
Die Abstimmung beschäftigt sie sehr, sie liest englische Nachrichten und hört BBC-Radio, um sich zu informieren, diskutiert mit ihren Schwestern, die in der Nähe von London leben, und Freunden. Ihr macht Sorgen, dass viele Briten in Berlin kein Interesse am Referendum zeigen. „Sie haben sich nicht mal zur Wahl registriert“, sagt sie. Jeder Brite muss sich im Wählerverzeichnis eintragen, wer länger als 15 Jahre im Ausland lebt, verliert sein Wahlrecht. Sie hat ihre Stimme natürlich abgegeben. Für Europa.
Melody Howse gehört zu einer Generation, die mit deutsch-britischen Feindbildern nichts anfangen kann. Sie kam nach Berlin, nicht weil sie Deutschland oder die deutsche Sprache so toll fand, sondern wegen ihres Mannes. Er nahm hier eine Stelle an, zwei Jahre lang pendelte sie zwischen London und Berlin, dann zog sie her, bekam ein Kind, begann ein Masterstudium. Sie redet darüber, wie sehr sie Berlin schätzt, die hohe Lebensqualität, das zuverlässige Verkehrssystem, die umfassende Gesundheitsversorgung, die kostenlosen Universitäten. Für die doppelte Staatsbürgerschaft interessiert sie sich aus rein rationalen Gründen.
Ihr Sohn ist in Berlin geboren. Er ist vier, geht in Friedrichshain in den Kindergarten, spricht Deutsch, hat deutsche Freunde. „Er sagt, er ist Deutscher“, sagt Melody Howse. Aber er hat einen britischen Pass, wie seine Eltern. „Wenn Großbritannien die EU verlässt, was wird aus Leuten wie uns? Wir wollen nicht zurück nach England, uns gefällt das Leben hier“, sagt Melody Howse. In Großbritannien fühle sie sich fremder, es sei nicht mehr so offen und tolerant wie zu ihrer Kindheit. Ihre Mutter sagt: Dann müsse sie zurück in die Karibik. Aber sie war noch nie in der Karibik.