Fachkräfte für Deutschland: Hier sind sie. Und kämpfen um Stempel
Bisma und Emmanuel studierten in Charkiw. In Berlin könnten sie arbeiten und weiterlernen. Doch komplizierteste Regeln blockieren die Drittstaatler.

Sie sind jung, voller Tatendrang und Hoffnung. Sie haben, was Deutschland so dringend braucht: eine solide Schulbildung, den festen Willen, nach einer Ausbildung in der Pflege zu arbeiten, und eine herzerwärmende Freundlichkeit. Sie erfüllen alle Bedingungen für einen längerfristigen Aufenthalt in Deutschland.
Bisma Mirzankar, 20, Tochter indischer Eltern, die in Saudi-Arabien arbeiten, und Emmanuel Ijeoma, 32, Sohn kleiner Leute aus Nigeria. Beide studierten in Charkiw, im Norden der Ukraine – Bisma im zweiten Jahr an der Simon Kuznets Kharkiv National University in einem englischsprachigen Bachelor-Kurs für Internationales Wirtschaftsmanagement. Emmanuel lernte gerade die ukrainische Sprache, vorbereitend für eine Ausbildung zum Krankenpfleger.
Beide fanden einander in Charkiw, wurden ein Paar, wie es die besten Seiten der Globalisierung zusammenführt. Alles war gut. Bis zum 24. Februar 2022.
Hals über Kopf flohen sie sofort bei Beginn des Überfalls, als russische Truppen in den ersten Kriegstagen mit schwerer Artillerie auf Charkiw zumarschierten. Am 27. Februar drangen sie in die Stadt ein, wurden zwar wieder hinausgedrängt, aber Straßenkämpfe tobten. Charkiw lag unter schwerem Beschuss.
28. Februar: Raus aus der Ukraine
Da waren Bisma und Emmanuel unterwegs wie Hunderttausende andere. Mit ein paar Habseligkeiten schlugen sie sich an die Grenze zur Slowakei durch. Die Einreisestempel in den beiden Pässen weisen den 28. Februar 2022 als Tag der Ausreise aus der Ukraine aus. An jenem Tag meldeten die Nachrichtenagenturen: Russland bombardiert Charkiw mit Streubomben.
Die beiden Flüchtlinge erreichten über die Slowakei und Ungarn schließlich am 10. April, nach sechs Wochen Odyssee, Berlin – den Hauptbahnhof. Emmanuel ist sich sicher: Bei der ersten Registrierung dort wurden Kopien der Pässe und der Temporary Residence Cards, ihrer ukrainischen Ausweise, angefertigt. Ein Detail, das später noch von höchstem Belang sein wird.

Sie kamen in wechselnden Unterkünften unter, immer ungewiss, wie die nächsten Tage verlaufen würden. Es dauerte einige Zeit, bis die besondere Lage der sogenannten Drittstaatler erkannt war. Der Berliner Senat beschloss schließlich im August, Studierenden „nach Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis nach Paragraf 24 Aufenthaltsgesetz eine Fiktionsbescheinigung von sechs Monaten“ zu erteilen. Eine Frist, um ihren Status zu klären und die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis zu schaffen, „zum Beispiel, um ihr Studium in Berlin fortzusetzen“, wie die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey damals sagte. Und Innensenatorin Iris Spranger freute sich über „die Chance, das Potenzial von hoch qualifizierten Fachkräften nach deren Studium dauerhaft für Berlin zu gewinnen“.
„Da dachten wir, alles wird gut“, sagt Bisma. Amtliche Registrierung in Tegel, ein Zimmerchen in einer Flüchtlingsunterkunft, aber immerhin abgeschlossen. Das Amt zahlt Sozialleistungen: Miete, Krankenversicherung, monatlich zwischen 300 und 350 Euro Sozialgeld. Sie zogen los, beschafften alle notwendigen Papiere für die nächste Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung, die sogenannte Fiktionsbescheinigung. Besonders wichtig waren die Nachweise eines Arbeits- und Studienplatzes, einer Wohnadresse, eines Integrationskurses und der Beweis, dass sie in der Ukraine gelebt und studiert hatten und eben nicht zu jenen gehörten, die die chaotische Kriegs- und Fluchtsituation für eine illegale Migration ausnutzten.
Ein schwerer Schlag: In der U8 bestohlen
Alles war beisammen, als sie im September zum Termin beim Landeseinwanderungsamt LEA erschienen. Hier wird geprüft und über Schicksale entschieden. Sie glaubten, alles, auch ihren Ukraine-Aufenthalt, unzweifelhaft bewiesen zu haben mit den Stempeln im Pass, den physisch vorhandenen Unterlagen ihrer ukrainischen Ausbildungsstätten. Der Residentenkarte. Die allerdings entwickelte sich zur Krux: In der U-Bahn war ihnen im Juni die Tasche gestohlen worden, in der beide Karten steckten. Es war zwischen Hermannplatz und Boddinstraße. Zwei weitere von ungezählten U8-Opfern.
Sie liefen umgehend zur nächsten Polizeiwache und meldeten den Verlust. Die Polizeipapiere konnten sie vorlegen. Die wichtigen Karten besaßen sie nun nur noch als Fotokopien. Weitere amtliche Kopien müssten dort abrufbar sein, wo sie im Durcheinander der Ankunft am Hauptbahnhof bei der Registrierung entstanden. Vermutlich bei der Bundespolizei.
Eine Ausweiskopie ist kein Original
Die Sachbearbeiterin der LEA meldete regel- und pflichtgemäß Skepsis an. Solche Kopien sind leicht herstellbar, Schlepperbanden und Betrüger sind darin geübt. Für Bisma und Emmanuel ein K.o.-Schlag. In der Ukraine neue Originale beschaffen? Doch nicht in diesem Krieg! In der ukrainischen Botschaft stecken sie im Terminstau – irgendwann im März geht da vielleicht etwas, keinesfalls früher.
Vor einer Woche, als die Berliner Zeitung anlässlich des bevorstehenden Jahrestags des Kriegsbeginns ahnungslos nach dem Fortgang ihrer Angelegenheiten fragte, sahen sich beide vor einer undurchdringlichen Wand: Ohne das Original der Residentenkarte keine Fiktionsbescheinigung, ohne Fiktionsbescheinigung drohte der Verlust der Unterkunft, der Sozialleistungen, irgendwie das Ende.
Beide könnten sofort Jobs bei Tesla antreten, in der Montage. Emmanuel hatte schon dort angefangen, aber sie haben ihn wieder weggeschickt wegen des fehlenden Fiktionspapiers. Mit diesen Jobs könnten sie ihren Lebensunterhalt bestreiten, Steuern und Sozialabgaben bezahlen, so, wie es die gesetzlichen Regeln für einen Studienaufenthalt vorschreiben. „Wir wollen auch für das Studium etwas ansparen“, sagt Emmanuel.
Beide haben fest zugesagte Studienplätze an der BSBI (Berlin School of Business and Innovation) in der Karl-Marx-Straße. Die Einrichtung hat für die beiden Kandidaten in schwierigen Umständen die Studiengebühr halbiert. Bisma könnte dort am 28. Februar ihr Studium beginnen und auf ihrem englischsprachigen Bachelor-Kurs Internationales Wirtschaftsmanagement aufbauen, den sie eineinhalb Jahre in Charkiw absolviert hat. Nun geht es um die Fachrichtung International Health Care Management für eine qualifizierte Arbeit im Gesundheits- und Pflegebereich. Emmanuel strebt einen 18-Monate-Kurs zur Ausbildung als Pfleger an. Das wäre ab Mai möglich.
Die BSBI erläutert auf ihrer Internetseite die kombinierte Ausbildungsmethode mit Anwesenheitszeiten und Fernstudium, „um Ihr Studium zeitlich mit einer Berufstätigkeit zu vereinbaren. Zugleich ist das Erlernen der deutschen Sprache möglich.“ Perfekt eigentlich. Dieser Teil Deutschlands ist bereit, den viel beklagten Fachkräftemangel zu mildern.
Für Bisma und Emmanuel tat sich am Freitag dann völlig überraschend in verzweifelter Lage nun doch ein Loch in der unüberwindbar erscheinenden Wand auf: In der Woche zuvor hatten sie sich in ihrer Not mit einer E-Mail an den LEA-Direktor Engelhard Mazanke persönlich gewandt und ihren Fall geschildert.
Der reagierte nach Prüfung der Lage mit einem Okay. Und erläutert: „Dass die Vorlage von Kopien einen anderen Beweiswert für einen Voraufenthalt in der Ukraine hat als fälschungssichere Identitätsdokumente und ukrainische Titel, liegt in der Natur der Sache.“
Wir brauchen mehr Großzügigkeit gegenüber Einwanderern, die in Deutschland arbeiten wollen. Da brauchen wir keine Zäune, da haben wir noch viel zu viele Zäune im Recht.
Nun haben die beiden die Fiktionsbescheinigung, gültig für weitere sechs Monate. Sie landen nicht mittellos auf der Straße, können wieder bei Tesla anfangen. Nicht aber das Studium. „Dafür reicht diese Art Fiktionspapier noch nicht aus“, mailt Emmanuel auf Anfrage. Weitere Bescheinigungen sind beizubringen, um ein stabiles Studentenvisum und den entsprechenden Stempel im Pass zumindest für die Dauer der Ausbildung zu besorgen.
Engelhard Mazanke bestätigte der Berliner Zeitung auf Anfrage: „Der Aufenthalt ist nach wie vor von Gesetzes wegen bis zu einer endgültigen Entscheidung des LEA bezüglich ihres Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 24 AufenthG rechtmäßig.“ Daraus leite sich das Recht zur Erwerbstätigkeit ab und das Recht auf entsprechende Leistungen für Unterkunft und Unterstützung.
Druck von den Familien
Derweil verlieren die Familien zu Hause in Saudi-Arabien wie Nigeria die Geduld: Wie sollen sie verstehen, welche Hürden ihre Kinder in dem reichen, viel besungenen Deutschland zu überwinden haben? Bismas indische Eltern haben in Saudi-Arabien ein bescheidenes Auskommen gefunden. Sie haben sich krummgelegt, um der klugen Tochter das Studium in der Ukraine zu finanzieren. Den Kredit, den die Eltern dafür aufgenommen hatten, zahlen sie noch immer ab. Doch das Studium gibt es nicht mehr.
Auch Emmanuel hatten die vergleichsweise günstigen Studiengebühren in die Ukraine geführt; auch seine Familie hat sich verschuldet, voller Hoffnung, diesem begabten, lernfreudigen Sohn mit einer guten Ausbildung ein selbstständiges Leben zu ermöglichen.
Nun bitten die beiden zu Hause um weitere Hilfe für die nächsten Studiengebühren. Emmanuels Vater aber braucht das Geld für eine Operation am rechten Auge, das zu erblinden droht. Und die Geschwister fragen, wie es um ihre Chancen steht.
„Ich bin stark, ich schaffe das – arbeiten und studieren. Ich kann sehr hart arbeiten, das entspricht meiner Natur“, sagt Emmanuel entschlossen. Wir werden nachfragen.