Fahrradunfälle im Berliner Straßenverkehr: Tulpen für Jacob
Berlin - Die Tulpen neben den weiß lackierten Speichen sind welk. Astrid Burkhardt hat frische mitgebracht. Sie wickelt sie aus dem Papier und stellt sie in die Vasen , die rechts und links von einem kleinen Holzkreuz im Boden stecken. Das Kreuz steht auf dem Mittelstreifen der Holzmarktstraße in Friedrichshain. „Jacob“ steht in schwarzer Schrift auf dem Holz, „26.10.1987 bis 30.09.2011“. Jacob ist Astrid Burkhardts Sohn. Er wurde nur 23 Jahre alt. Am Abend des 29. September im vergangenen Jahr hatte er an der Holzmarktstraße/Ecke Andreasstraße nahe dem Ostbahnhof einen Fahrradunfall. Er starb am Tag darauf im Krankenhaus Friedrichshain an seinen Kopfverletzungen.
Es war ein Unfall, wie er so häufig vorkommt. Auto trifft auf Fahrrad, zu Schaden kommt der Radfahrer. Es ist kein schöner Ort, an dem das Holzkreuz steht. Ringsum rauscht der Verkehr. Man hat Atemnot wegen der vielen Abgase, wenn man länger dort steht und den kleinen Gedenkort für Jacob betrachtet. Auch ein weiß lackiertes Rad ist an einem Laternenpfahl festgekettet. Der Fahrradclub ADFC hat es hingestellt. Seit vier Jahren mahnt der Club mit solchen Rädern zu mehr Vorsicht. Sie befinden sich dort, wo Radfahrer im Verkehr gestorben sind. Elf Räder für die elf toten Radfahrer aus dem Jahr 2011 stehen zurzeit an Berliner Kreuzungen.
Am Kreuz für Jacob brennen zwei Windlichter, jemand hat Steine hingelegt. Am Laternenpfahl hängt sein Bild – ein junger Mann mit wuscheligen Haaren, weichen Zügen und kleinem Kinnbart. Daneben eine Kinderzeichnung, noch mehr Fotos, Zeitungsnotizen und ein Gedicht.
„Viel zu schnell“
„Er kam von dort“, sagt Astrid Burkhardt und zeigt die Holzmarktstraße hinauf, „und er war schnell, so schnell – viel zu schnell“. Sein Rad hatte 27 Gänge. Als es auf der Kreuzung liegen blieb, war der 24. eingestellt.
Astrid Burkhardt ist eine schlanke Frau mit kurzen dunkel gefärbten Haaren. Sie zündet Kerzen an, richtet alles her, wie auf einem Grab oder einem Altar. Sie kennt den Mann nicht, der ihren Sohn überfuhr. Sie wartet auf den Prozess. Dass ihr dann klarer wird, was geschah. Dass festgestellt wird, wer Schuld hat. Ein Mercedesfahrer wollte links abbiegen. Er hat offenbar den heranrasenden Jacob übersehen. Der 23-Jährige machte eine Vollbremsung und flog über den Lenker. Er schlug mit dem Kopf auf, er trug keinen Helm. Rad und Auto blieben unbeschädigt.
Das Holzkreuz ist für Astrid Burkhardt ein Ort, an dem sie versucht, ihren Schmerz zu bewältigen. „Man denkt immer, uns passiert so was nicht, es passiert nur den anderen“, sagt sie. An jenem Abend klingelte das Handy wie verrückt. Eine Frau aus dem Krankenhaus war dran. Sie sprach von schwersten Kopfverletzungen und wollte wissen, ob Jacob Medikamente einnehme oder Allergien habe. Die Familie nahm ein Taxi vom Wohnort Wildau in die Stadt. „So lang kann keine Taxifahrt sein“, sagt Astrid Burkhardt leise. Dann weint sie auf der Kreuzung zwischen den hupenden Autos. Sie spricht von dem Arzt, der mit ihr geredet hat, von dem fürsorglichen Personal, von Notoperation und Hirnschwellung, von Abschiednehmen und schließlich von der Frage nach einer Organspende. Sie hat den Körper ihres Sohnes freigegeben. „Jacob hätte das gewollt.“
Astrid Burkhardt ist nicht allein auf dieser Friedrichshainer Kreuzung. Henriette Winkler, die Freundin von Jacob, ist auch gekommen, sie nimmt die Mutter ihres toten Freundes in den Arm. Die beiden Frauen besuchen den Ort regelmäßig. Immer bringen sie Blumen mit, zünden neue Kerzen an.
Es gibt immer zwei Opfer
Das weiße Rad wird eines Tages weggeräumt, das wissen sie. Im November, vor dem ersten Schnee, wird der ADFC die elf Räder des Jahres 2011 wieder einsammeln – um sie im Frühjahr darauf für die Toten des Jahres 2012 aufzustellen.
Astrid Burkhardt und Henriette Winkler haben die Windlichter festgekettet, damit sie keiner stiehlt. Eins mussten sie ersetzen. Eingetreten. Vielleicht von betrunkenen Partygängern aus den Clubs in der Nähe.
Es bleiben viele Menschen stehen an dem Kreuz und dem Geisterrad, wie der ADFC seine Räder für die Toten nennt. Sie betrachten die Blumen und die Fotos, lesen die Texte. An anderen Unfallorten mahnt nur ein weiß lackiertes Rad mit einem Schild, auf dem das Todesdatum steht.
Eines seiner weißen Räder musste der ADFC jetzt versetzen. Sigrid Nikutta, die Vorstandsvorsitzende der BVG, hat persönlich darum gebeten. Das Rad steht an der Mollstraße in Mitte und erinnert daran, dass an dieser Stelle im Oktober vergangenen Jahres ein 29-jähriger Radfahrer beim Überqueren der Gleise unter eine Straßenbahn geriet und starb. „Der Straßenbahnfahrer war nach diesem Erlebnis lange krankgeschrieben“, sagt Bernd Zanke vom ADFC. Dann kam er zurück in den Dienst. „Fünfzehn Mal ist er an dem weißen Rad vorbeigefahren, beim sechzehnten Mal konnte er nicht mehr, ist ausgestiegen und hat sich neben das Rad gesetzt und geheult“, sagt Zanke. Natürlich sei das Rad dann versetzt worden – an den Straßenrand, wo der Fahrer nicht mehr ganz so stark mit dem Geschehen konfrontiert werde. „Es gibt eben immer zwei Opfer bei so einer Sache: den toten Radfahrer und den Auto-, Bahn- oder Lasterfahrer“, sagt Zanke.