Fall Steffel: FU ignoriert eigenen Ehrenkodex

Wenn Plagiatsvorwürfe wie die gegen den CDU-Bundestagsabgeordneten Frank Steffel bekannt werden, dann gelten eigentlich klare Regeln an der Freien Universität (FU). Eine eigens eingesetzte Kommission soll die Untersuchung übernehmen, so sieht es der interne „Ehrenkodex“ vor, der auf der Homepage angepriesen wird.

Doch die FU scheint nicht mehr viel auf ihre Richtlinie zu geben. Wie der Sprecher von Präsident Peter-André Alt auf Nachfrage der Berliner Zeitung einräumte, werden Plagiatsverdachtsfälle seit Jahren nicht mehr nach dem Regelwerk untersucht. Auch der Fall Steffel wird darum nicht von einer Untersuchungskommission geprüft, sondern vom Promotionsausschuss des Fachbereichs Wirtschaftswissenschaften. Dieser ist laut dem Berliner Hochschulgesetz zuständig, das weniger streng ist als der Ehrenkodex.

Dieses Vorgehen hat weitreichende Konsequenzen. Der Ehrenkodex enthält nicht nur klare Regeln, wie die Kommission zu besetzen ist. Ihr sollen Vertreter mehrerer Fachbereiche angehören, darunter ein Jurist mit Befähigung zum Richteramt – so wird im Ansatz verhindert, dass ein Fachbereich einen unbequemen Fall stillschweigend zu den Akten legt. Das Gremium ist auch angehalten, sich an Fristen zu halten. Binnen drei Monaten soll die Vorprüfung abgeschlossen sein, drei weitere Monate sind für die förmliche Untersuchung vorgesehen. Die FU folgte den Empfehlungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), als sie den Ehrenkodex beschloss.

Gesetznovelle ist in Sicht

Dass die Universität längst wieder davon abgerückt ist, begründet der Sprecher mit einem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin aus dem Jahr 2009 (Az.3A319/05). In einem Plagiatsfall stellten die Richter fest, dass das Ehrenkodex-Verfahren die Prüfung durch Promotionsausschuss und Präsidium nicht ersetzen kann. Diese Feststellung erscheint allerdings trivial – schließlich ist im Kodex klar festgehalten, dass beide über den Ausgang des Verfahrens entscheiden. Und selbst wenn die Juristen der Hochschule überzeugt sein sollten, dass der Kodex überarbeitungsbedürftig ist, stellt sich die Frage, warum das nicht geschehen ist – Zeit dafür war genug, das Urteil ist neun Jahre alt.

Unklar bleibt vorerst, wie lange die Überprüfung von Steffels Dissertation noch dauert, das Hochschulgesetz sieht keine Fristen vor. Jedenfalls laufe sie noch, teilte der FU-Sprecher mit. So lange könne man sich zu Details nicht äußern.

Ganze Absätze aus anderen Werken übernommen

Der wissenschaftspolitische Sprecher der Berliner Linksfraktion, Tobias Schulze, kritisierte das Vorgehen der FU. „Es kann nicht sein, dass die Hochschulen in Fällen wie diesem Autonomie beanspruchen, sich eigene Regeln geben und sich dann nicht danach verhalten“, sagte er der Berliner Zeitung. Die Regelungen des Berliner Hochschulgesetzes zur Aufklärung von Fällen wissenschaftlichen Fehlverhaltens seien unzureichend. „Das Gesetz ist ziemlich alt, die Standards haben sich geändert.“ Bei der für 2020 geplanten Novelle müsse es entsprechende Änderungen geben, forderte er.

Steffel wird vorgeworfen, auf mehreren Seiten seiner Arbeit ganze Absätze aus anderen Werken übernommen zu haben, ohne die Zitate als solche zu kennzeichnen. Die Dissertation reichte der Reinickendorfer CDU-Chef 1999 ein, es geht darin um Unternehmer in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Steffel selbst war damals als Unternehmer erfolgreich und trieb seine politische Karriere in der Berliner CDU voran – zwei Jahre später trat er als Spitzenkandidat gegen Klaus Wowereit an.

Wortgleiche Kopien

War seine Zeit so knapp, dass er wissenschaftliche Grundsätze über Bord warf? Jedenfalls erstattete der Plagiatsexperte Martin Heidingsfelder, Gründer der Plattform Vroniplag, Ende 2017 Anzeige bei der FU. Er hatte festgestellt, dass Steffel lange Textpassagen aus drei Werken übernommen hatte, ohne diese klar als fremdes geistiges Eigentum zu kennzeichnen.

Auch die Berliner Zeitung hat bei einer weiteren stichprobenartigen Überprüfung von Steffels Arbeit festgestellt, dass er aus mindestens vier weiteren Werken lange Passagen wortwörtlich übernommen hat, ohne diese Zitate deutlich zu machen. So finden sich mehrere Absätze in Unterkapitel 3.2.3 in Steffels Dissertation wortgleich in einem Diskussionspapier der Ökonomen Horst Albach und Rainer Schwarz.

Geradezu kunstvoll setzte Steffel eine Passage über die Kombinate in der DDR aus Versatzstücken zusammen, die einem Buch des einstigen DDR-Korrespondenten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Hans Herbert Götz, entnommen sind.

Eigene Zitierregeln

Auch von dem kapitalismuskritischen kanadischen Ökonom John Kenneth Galbraith übernahm Steffel längere Passagen. Immerhin erwähnte Steffel die betreffenden Texte jedoch in Fußnoten. Die Berliner Zeitung hat mehrere der Fundstellen auf ihrer Homepage dokumentiert.

Frank Steffel äußerte sich auf Anfrage nicht zu den Vorwürfen. Sein Doktorvater Winterhager erklärte nach Bekanntwerden der Vorwürfe, er fühle sich nicht getäuscht. „Die von Herrn Dr. Steffel gewählte Zitierweise (...) war damals an meinem Lehrstuhl und nach meiner Kenntnis und Überzeugung auch im gesamten Fachbereich üblich.“ Die FU wollte sich auf Nachfrage nicht dazu äußern, ob es tatsächlich eigene Zitierregeln für die Wirtschaftswissenschaften gibt, wie Winterhager sagt.

Aber eigentlich ist zu dieser Frage auch alles gesagt. In der DFG-Denkschrift „Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ heißt es: „Wissenschaftliche Arbeit beruht auf Grundprinzipien, die in allen Ländern und in allen wissenschaftlichen Disziplinen gleich sind.“ Und weiter: „Die Übernahme von Texten, Ideen oder Daten anderer ohne eine eindeutige Kenntlichmachung des Urhebers ist ein Plagiat, sie verstößt gegen die Regeln der guten wissenschaftlichen Praxis.“ Der Text stammt von 1998. Ein Jahr später reichte Steffel seine Dissertation ein.