Die Zahl der Fälle von Sterbehilfe in Deutschland ist massiv angestiegen
In Berlin kann dem Wunsch der Betroffenen recht schnell entsprochen werden. Ein Grund für den Anstieg der Zahlen ist die Angst vor einem Verbot der Sterbehilfe.

Sterben ist eigentlich eine höchst private Angelegenheit. Es gibt aber auch Menschen, die gezwungen sind, im Beisein von völlig fremden Menschen zu sterben: durch die Unterstützung von Sterbehelfern. Denn in Deutschland ist ein bestimmtes, sicher tödliches Medikament aus der Apotheke für Sterbewillige auch auf Rezept nicht zugänglich, deshalb sind Suizidwillige, die zum Beispiel unheilbar krank sind, auf die Hilfe von Organisationen wie der Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) oder Dignitas angewiesen.
Die DGHS hat am Mittwoch in Berlin ihre Jahresbilanz gezogen und die Zahlen sind eindeutig: Die Hilfe solcher Organisationen wird gebraucht. Im Jahr 2022 hat die DGHS in 227 Fällen eine Freitodbegleitung organisiert, in ganz Deutschland. Im Jahr davor waren es nur 120 Fälle. DGHS-Präsident Robert Roßbruch sagte: „Die Nachfrage der Menschen nach einem Notausgang ist einfach da. Vielen hilft bereits das Wissen, dass sie auf einen solchen Ausweg zurückgreifen können.“
Grundlage für solche professionellen Freitodbegleitungen ist das eindeutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Februar 2020. Das oberste deutsche Gericht hatte den Paragrafen 217 des Strafgesetzbuches für verfassungswidrig erklärt. Mit diesem Gesetz hatte eine Mehrheit 2015 im Bundestag die Arbeit von Sterbehilfeorganisationen verboten. Das Urteil hob die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Hilfe auf. Das Gericht stellte ausdrücklich heraus, dass jedem Mensch in Deutschland das Recht zusteht, „sein Leben selbstbestimmt zu beenden“. Die Gründe dafür haben den Staat nicht zu interessieren. Es gibt quasi keine Pflicht zu leben.
16 Teams helfen den Sterbewilligen
Dass die Fallzahlen steigen, liegt nach Ansicht von Roßbruch an mehreren Gründen. Nach dem Grundsatzurteil würden sich immer mehr Menschen über die gesetzlichen Bedingungen informieren, außerdem habe die DGHS inzwischen ihre Hilfsstrukturen weiter ausgebaut. Im Jahr 2021 gab es nur acht Hilfsteams aus Ärzten und Psychologen, die den Sterbewilligen bei ihrem letzten Schritt halfen. Derzeit sind es 16 Teams, allein drei in Berlin. „Dort kann das Bedürfnis nach einer Freitodbegleitung relativ zeitnah gedeckt werden.“
Voraussetzung ist immer ein Antrag, davon gab es im Vorjahr 630. Psychologen prüfen dann, ob sich die Sterbewilligen freiwillig zu diesem Schritt entschlossen haben und ob sie geistig dazu auch in der Lage sind. Im vergangenen Jahr wurden auch sieben Anträge abgelehnt, zum Beispiel weil die Klienten bereits zu dement waren, um frei zu entscheiden.
Ein weiterer Grund für die Zunahme der Fälle sieht der DGHS-Präsident darin, dass eine Gruppe von konservativen Politikern aller Parteien im Bundestag erneut einen Gesetzentwurf erarbeitet, der dem für nichtig erklärten Paragraf 217 sehr ähnelt. „Viele Betroffene wollten ihren Antrag erst 2023 stellen, haben es aber bereits ab November 2022 getan“, sagt er. „Erschreckend finde ich, dass manche Personen ihr Ableben bewusst im Termin vorziehen wollen, weil sie eine restriktive neue Gesetzgebung fürchten.“
Roßbruch kündigte an, dass sofort Verfassungsbeschwerde eingereicht werde, wenn das Gesetz eine Mehrheit finden sollte. Ebenso werde die einstweilige Anordnung beantragt, die das neue Gesetz dann vorerst für unwirksam erklären würde. Solche Anträge hätten normalerweise keinen Erfolg. „Aber wir sind da optimistisch“, sagte er. Denn das Gericht habe ein fast wortgleiches Gesetz ja schon mal für nichtig erklärt.

Zu den Plänen der Politiker sagte er: „Es gehört schon viel Ignoranz, Beratungsresistenz und ideologische Verblendung dazu, eine als bereits für verfassungswidrig erklärte Strafrechtsnorm ein zweites Mal gesetzlich implementieren zu wollen.“
Zu den Zahlen der DGHS kommen noch die Fälle von den Gesellschaften Dignitas und dem Verein Sterbehilfe hinzu. Bundesweit haben sicher mehr als 500 Menschen im vergangenen Jahr Sterbehilfe in Anspruch genommen.
Mehr Frauen als Männer wollen freiwillig sterben
Die Zahlen sind durchaus aufschlussreich: Unter den 227 Menschen, die mithilfe der DGHS starben, waren 63 Prozent Frauen. 55 Prozent der Menschen kamen aus Großstädten. Der jüngste Fall war eine 40 Jahre alte Person, an Krebs erkrankt, der unheilbar und unbehandelbar war, der älteste Fall war eine 101 Jahre alte Frau, die sterben wollte, weil sie „lebenssatt“ war. Diesen Grund für den Sterbewunsch gaben nur 17 Prozent der Betroffenen an, alle anderen waren erkrankt. 38 Prozent der Sterbewilligen hatten einen Hochschulabschluss, 15 Prozent Abitur, 23 Prozent einen Realschulabschluss. Die altersmäßig größte Gruppe war die zwischen dem 80. und 89. Lebensjahr mit 37 Prozent.