Die Freizeitpaten

Gemeinsam Schönes erleben: Der Verein Kein Abseits! bringt Erwachsene mit Mädchen und Jungen aus benachteiligten Familien zusammen.

Kein-Abseits-Mentorin Hannah Deinzer mit ihrer Mentee Shahd 
Kein-Abseits-Mentorin Hannah Deinzer mit ihrer Mentee Shahd Volkmar Otto

In ein Gespräch vertieft schlendern eine junge Frau und ein Mädchen auf den Hermannplatz zu. Es ist ungemütlich kalt an diesem Nachmittag; ein Windstoß fährt in die schwarzen Locken des Mädchens, die dunkelblonde Frau zieht den Schal um ihren Hals etwas fester zu. Die beiden sind auf dem Weg zu einem türkischen Nussladen – es ist der Höhepunkt ihres Treffens, beide mögen die knackigen Naschereien.

Einmal pro Woche verbringen sie einige Stunden miteinander und das schon seit mehr als einem Jahr ganz regelmäßig. Die beiden sind ein Tandem, der Verein Kein Abseits! hat sie zusammengebracht.

„Wir wollen Kindern und Jugendlichen, die nicht so gute Startbedingungen haben, Vorbilder zur Seite stellen“, sagt Gloria Amoruso. Sie hat den Verein vor zwölf Jahren mit einer Schulfreundin gegründet und leitet heute dessen Geschäfte. Mehr als 500 Tandems haben sich seither mithilfe des Vereins gefunden, berichtet sie.

Talente entdecken, Selbstvertrauen gewinnen

Dabei ginge es nicht primär darum, dass die Erwachsenen den Kindern gezielt etwas beibringen oder ihnen etwa bei den Hausaufgaben helfen. Es gehe vielmehr um gemeinsam und möglichst freudvoll verbrachte Freizeit. „Darüber lernen die Kinder sehr viel“, sagt Gloria Amoruso. Sie gewännen Selbstvertrauen, entdeckten ihre Talente und bekämen Zugang zu Freizeitorten, die sie später auch allein aufsuchen könnten.

„Im Sommer waren wir im Schwimmbad, im Winter Schlittschuh laufen. Und im Kletterparcours hatte ich zuerst etwas Angst“, erzählt das Mädchen mit den schwarzen Locken. Sie heißt Shahd, wurde vor zwölf Jahren im syrischen Aleppo geboren und floh dann vor dem Bürgerkrieg mit ihrer Familie über die Türkei nach Deutschland. Zunächst lebte die fünfköpfige Familie in einem Flüchtlingsheim in Lichtenberg, dort wurde Kein Abseits! auf das Mädchen aufmerksam.

Das Schönste ist, dass wir Menschen zusammenbringen, die sich unter normalen Umständen nie kennenlernen würden. Es entstehen Freundschaften, bei denen beide Seiten einen Perspektivwechsel durchmachen.

Gloria Amoruso, Gründerin und Geschäftsleiterin von Kein Abseits!

„Ich wollte etwas Sinnvolles tun, nicht nur Geld spenden“, sagt Hannah Deinzer. Am Schwarzen Brett des Orchesters, in dem sie Geige spielt, entdeckte die 27-Jährige einen Flyer, mit dem Kein Abseits! um Mentorinnen und Mentoren warb. Die Onlinemarketing-Expertin arbeitete zu dieser Zeit nur vier Tage pro Woche in einer Agentur, sie hatte also Zeit für eine Mentee, wie von Mentoren unterstützte Personen genannt werden, und meldete sich bei dem Verein.

Die Tandem-Koordinatorin prüfte, welches Kind von der langen Warteliste gut zu Hannah Deinzer passen würde – und stieß auf Shahd. Ein erstes Treffen im Beisein einer Vereinsmitarbeiterin zeigte, dass sich die beiden sympathisch waren. Seit Sommer 2021 unternehmen Hannah Deinzer und Shahd einmal pro Woche etwas Schönes miteinander – vom Abend in der Philharmonie bis zum Besuch im Jumphouse.

„Die erste Phase dauert immer acht Monate“, erklärt Gloria Amoruso. In dieser Zeit stellt der Verein jedem Tandem ein Budget von 170 Euro für Aktivitäten zur Verfügung, über die das Tandem frei entscheiden darf. Nach den acht Monaten könnten sich die Tandems auch noch weiter treffen und werden vom Verein begleitet, wenn sie sich für eines der Fortsetzungsprogramme entscheiden, berichtet die Geschäftsleiterin des Vereins. Er finanziere sich aus Zuschüssen des Senats und der Bezirke Lichtenberg und Reinickendorf, wo der Verein tätig sei, sowie über Spenden und Geld von der Aktion Mensch, berichtet Gloria Amoruso. „Aber einfach ist das nicht, denn das sind in der Regel befristete Projektfinanzierungen. Andere Vereine sind daran schon kaputtgegangen.“

Ein gemeinsames Fest am Anfang und am Ende

Ebenfalls nicht ganz einfach ist die Akquise von Mentorinnen und Mentoren; im Mai sollen die nächsten Tandems starten, im Oktober die übernächste Kohorte. Sowohl der Beginn wie das Ende der achtmonatigen ersten Phase werden mit einem Fest begangen. „Es tut gut, die Welt mal wieder mit Kinderaugen zu sehen und die sorgenvolle Erwachsenenwelt für ein paar Stunden zu verlassen“, wirbt Gloria Amoruso um Unterstützung. Die Mentorinnen und Mentoren sollten verlässlich pro Woche einen Nachmittag Zeit haben und acht Monate lang verfügbar sein.

Sie würde es sehr begrüßen, wenn mehr Arbeitgeber ein solches Engagement unterstützen würden, sagt die Sozialunternehmerin; eine solche Aufgabe mache die Menschen ausgeglichener und zufriedener, was dann auch den Unternehmen zugutekäme. Auch Rentnerinnen und Rentner seien willkommen, wenn sie sich fit und stabil für ein solches Tandem fühlten.

Checkliste für künftige Mentorinnen und Mentoren
  • Sie sind die nächsten acht Monate in Berlin und verreisen in dieser Zeit auch nicht länger als drei Wochen.
  • Sie haben neben Studium oder Beruf pro Woche einen Nachmittag oder einen halben Tag Zeit, mit einem Kind oder Jugendlichen etwas zu unternehmen. Die Mentees leben in Lichtenberg und Reinickendorf, es kommt also noch Fahrtzeit hinzu.
  • Sie haben Lust, neue Aktivitäten mit einem Mädchen oder Jungen im Grundschulalter auszuprobieren, bringen eigene Ideen mit, können sich aber auch auf Wünsche des Kindes einlassen.
  • Interessenten können sich melden per E-Mail unter mentoring@kein-abseits.de oder telefonisch unter 030/49 08 68 86.

„Viele meiner Freunde sagen, dass das ein tolles Projekt ist und dass sie auch gerne mitmachen würden. Eine Freundin hat sich auch bei Kein Abseits! gemeldet. Aber den meisten bleibt neben der Arbeit für so etwas keine Zeit“, sagt Hannah Deinzer.

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Das Gemälde von Lovis Corinth zeigt Odysseus im Kampf.                                               Berlinische Galerie
Woher kommt Mentoring? 
Der Begriff Mentor bezeichnet eigentlich eine Figur aus der Odyssee des griechischen Dichters Homer.

Als Odysseus in den Trojanischen Krieg aufbricht, gibt er seine Familie in die Obhut seines Freundes Mentor. Von da an passt Mentor auf Odysseus’ Frau Penelope und seinen Sohn Telemachos auf und greift den beiden bei verschiedenen Gelegenheiten unterstützend unter die Arme.

Mentor wird häufig gebraucht als Synonym für einen geachteten und gebildeten Menschen, der bereit ist, einen jüngeren Menschen an seinem Wissen und seinen Verbindungen teilhaben zu lassen.

Mentoring-Programme sind ein inzwischen sehr verbreitetes und bekanntes Instrument der Personalentwicklung sowie in der Förderung verschiedener Berufsgruppen und Künste.

Sie selbst war überrascht, wie einfach es war, zu Shahd einen guten Draht zu bekommen. „Das habe ich mir schwieriger vorgestellt.“ Bald ist auch die zweite Phase der Tandem-Zeit vorbei. Trotzdem wollen die studierte Onlinemarketing-Expertin und das syrische Flüchtlingskind in Kontakt bleiben. „Sie hilft mir bei allem“, sagt Shahd und strahlt die junge Frau an.

Vielleicht wird Shahd eine der Mentees sein, die später selbst Mentorin werden und ein Kind mit Unterstützungsbedarf an die Hand nehmen. Und vielleicht gehen sie dann auch zum Schwimmen, zum Eislaufen oder zu dem Nussladen in der Hermannstraße.