Friseur Michael Lubenow in Berlin-Wedding: Wo die Zeit stehengeblieben ist

Dass da ein „n“ in dem Werbespruch fehlt, übersieht man fast. So überladen mit allerhand Weihnachtsdeko sind die beiden Schaufenster des Friseursalons. Über der linken Auslage baumelt ein riesiger Weihnachtsstern. Darunter stehen drei kleine Reh-Figuren auf weißem Tüll, umringt von Lichterketten. Im rechten Schaufenster verdeckt ein riesiger Weihnachtsbaum den Blick ins Innere. Daneben ein kleiner Knecht Ruprecht und viele, viele rote Weihnachtskugeln. Man zweifelt kurz, ob man wirklich vor einem Friseursalon steht. Da fällt der Blick wieder auf den Werbespruch. Dort steht: „Den Haare machen ist Vertrauenssache“.

Es gehe um Aufmerksamkeit, sagt Michael Lubenow. Der 69-Jährige sitzt in der kleinen Teeküche seines „Salon Lubenow“, den er zusammen mit Renate Brieger betreibt. Mit seinen weiß-grauen Haaren und den tiefen Augenhöhlen sieht er aus wie eine schmächtige Version des ehemaligen Fußballtrainers Werner Lorant. Ungewöhnlich steif sitzt Lubenow auf seinem Stuhl. Den Kopf bewegt er beim Reden nicht, die Folge einer schweren Rückenerkrankung.

„Die meiste Werbung kannste weglassen“, sagt Lubenow, „dit weckt ja keen.“ Sechsmal im Jahr wechseln er und die 62-jährige Brieger die Motive in den Schaufenstern: Winter und Karneval, Ostern, Sommer, Halloween, Herbst und Weihnachten. Und der Fehler im Werbeslogan? „Ist keene Absicht“, gibt Lubenow zu. Er stört ihn aber auch nicht. „Dit wurde damals falsch jemacht. Jetzt ist dit nun mal so.“

Anzeige | Zum Weiterlesen scrollen

Auch Kunden dürfen hier noch rauchen

Es klingt nach Gleichgültigkeit. Dabei hat Lubenow einfach eine klare Haltung zu den Dingen: Er mag sie, wie sie sind. Die Einrichtung des Salons könnte locker als ein Museum über die Bundesrepublik der 60er-Jahre durchgehen. Wählscheibentelefon, holzvertäfelte Decke, lilafarbene Wände, eine mechanische Registerkasse – alles da. Außer einer Überwachungskamera deutet nichts auf ein Leben im 21. Jahrhundert hin.

Selbst die Luft in den Räumen wurde über die letzten Jahrzehnte konserviert. Ein wohliger Muff aus Haarspray, Zigarettenrauch und Altbauwohnung hat sich breit gemacht. Lubenow raucht, seitdem er zwölf ist. 50 Zigaretten am Tag. Immer im Laden, auch im Sommer. Vor kurzem haben sich neu eingezogene Nachbarn über den Gestank beschwert. Sie könnten nicht schlafen. Lubenow interessiert das nicht: „Hier wurde schon immer jeraucht“, sagt er. Müsste er gar nicht. Die ehemals weißen Wände in der Teeküche sind nicht vergilbt – sie sind gelb. Auch die Kunden dürfen hier noch qualmen. Sein Friedensangebot an die Nachbarn war ein kleiner Zitronenduftstecker. Man sieht ihn – riechen tut man ihn nicht.

Der Friseurladen im Berliner Stadtteil Wedding gehörte einst Lubenows Eltern. 1949 hatten sie ihn gekauft. Zwei Geschäftsräume, rechts der Damen-, links der Herrensalon. Frauen und Männer getrennt, so ist es noch heute. Die türkisfarbenen Armaturen im Herrensalon, die sein Vater einbauen ließ, sind noch dieselben. Nur die weißen Waschbecken im Damensalon hat Lubenow in den Siebzigern gegen beige Armaturen eingetauscht. Damals war das modern.

„Ich wollte den Laden eigentlich gar nicht übernehmen“, erzählt Lubenow. Seine Ausbildung hat er bei einem Friseur am Kurfürstendamm gemacht. Er wollte ins Show-Geschäft, die Haare der Kino- und Fernsehpromis herrichten. Dann verstarb plötzlich sein Vater. Da seine Mutter keinen Meistertitel hatte, musste Lubenow einspringen, um den Laden zu halten. Das war 1969.

„Ick kann ohne den Laden jar nicht mehr“

50 Jahre später ist Lubenow immer noch hier. Von Dienstag bis Freitag, von 9 bis 18 Uhr. Samstags von 9 bis 13 Uhr. Urlaub mache er fast nie. Eine Woche im Jahr, höchstens. Lubenow könnte längst in Rente sein, bei seiner Frau, bei seinem Haus und seinem Garten im Süden Berlins. Stattdessen steht er im Damensalon und wäscht die Haare von Frau Kuznow, einer Stammkundin.

Obwohl die Zeit in dem Laden stehen geblieben zu sein scheint, sind Gefühle wie Wehmut und Nostalgie Lubenow fremd. „Ick hab mein janzes Leben alles richtig jemacht“, sagt er. Über Dinge, die er nicht beeinflussen kann, denke er nicht lange nach. Als ihm vor 25 Jahren sein Führerschein abgenommen wurde, weil er betrunken Auto gefahren ist, nahm er ab sofort die U-Bahn zur Arbeit. Nach einem Jahr hatte er sich so sehr daran gewöhnt, dass er einfach weiter U-Bahn fuhr. Den Führerschein hat er bis heute nicht abgeholt.

Den Laden an jemand anderen zu übergeben oder gar zu schließen, kommt für Lubenow auch mit 69 nicht in Frage. „Ick kann ohne den Laden jar nich mehr.“ Er fürchtet sich vor der Langeweile zu Hause. Die im Laden kennt er. Viele Kunden haben Lubenow und Brieger nicht mehr. Die Stammkunden sind mit dem Laden alt geworden, viele sind mittlerweile gestorben. Ein paar junge kämen auch noch, sagt Lubenow. „Die sind so um die 40, 45.“ Da mehr Frauen kommen, teilen sich Lubenow und Brieger die Arbeit bei ihnen. Er wäscht, sie schneidet. Für die Sorgen und Nöte der Kunden sind beide zuständig.

Frau Kuznows Haare sind gewaschen. Brieger schneidet, Lubenow sitzt auf einem Hocker daneben. Die Kundin erzählt von ihrem Mietshaus, in dem eine Wohnung frei geworden ist. Brieger: „Die erhöhen da bestimmt ganz schnell die Miete.“ Lubenow: „Oder da kommen Asylanten rin, da ist der Staat janz schnell mit Sonderregeln.“ Kuznow: „Dann werden die Nachbarn ja irre, wenn die mit ihren zehn Kindern kommen.“ Lubenow: „Dafür jibt’s Psychiater. Dit bezahlt der Staat dann aber nicht.“

Trotz schwerer Krankheit macht Lubenow weiter

Was Migration und Asyl betrifft, ist Lubenow skeptisch. Es verträgt sich nicht mit seiner Idee von Bewahren und Routine. Migration bedeutet, sich mit Neuem, Unerwartetem auseinanderzusetzen. Dass sein Laden in einem Stadtteil liegt, in dem jeder zweite ein Migrationshintergrund hat, störe ihn nicht. Dagegen könne er ja nichts machen. Es sieht aus, als wolle er mit den Schultern zucken. Aber das kann Lubenow nicht mehr.

Die Einschränkung seiner Kopf- und Schulterbewegungen sind Folge einer rheumatischen Entzündung der Wirbelsäule. Mit 17 erkrankt Lubenow am sogenannten Morbus Bechterew. Die Betroffenen nehmen aufgrund der Schmerzen eine Schonhaltung ein, der Rücken krümmt sich. Erst leicht, dann immer stärker. Lubenow ist ein Extremfall. „Ick konnt nicht mehr jeradeaus gucken. Bin überall jegen jelaufen“, sagt Lubenow. Mit dem Arbeiten hört er trotzdem nicht auf. Er will nicht, dass die Krankheit sein Leben verändert.

Brieger holt ihn während dieser Zeit jeden Morgen am U-Bahnhof Seestraße ab und bringt ihn abends wieder zurück. Zweimal am Tag laufen sie die 200 Meter lange Strecke zwischen Salon und U-Bahnhof. Untergehakt, Lubenow rechts, Brieger links.

Eisenstange im Rücken

Vor vier Jahren hat Lubenow nach langem Suchen einen Arzt gefunden, der ihn gerade bog. In seinem Rücken steckt jetzt eine Eisenstange. Von Becken bis Kopf. Die Wirbelsäule wurde mit Schrauben an der Stange fixiert. Sein Kopf sitzt fest. Will er ihn drehen, muss er den ganz Körper drehen. Er führt es vor, freut sich. Wie schön starr doch alles ist.

Lubenow kann jetzt wieder geradeaus gucken, läuft nirgendwo mehr gegen. Auf dem Weg zum Bahnhof haken sich Brieger und Lubenow trotzdem weiter unter. Lubenow rechts, Brieger links. So sind sie es gewohnt.