Für den Neubau des Waisentunnels muss die Spree trockengelegt werden
Seit Jahren liegt die wichtige U-Bahn-Verbindung still, sie ist baufällig. Der Neubau wird teuer. Doch jetzt stellt der Senat klar: Es gibt keine Alternative.

Berlin - Es ist ein U-Bahn-Tunnel, den kaum jemand kennt. Das ist auch kein Wunder, denn der Waisentunnel unweit der Jannowitzbrücke in Mitte dient nicht dem Fahrgastverkehr. Der Tunnel zwischen der U5 und U8 gilt als wichtig, um Züge zu tauschen oder in die Werkstatt zu bringen. Seit 2017 darf die Flussunterquerung aber nicht mehr befahren werden, und die Betonkonstruktion gilt als Gefahr für Schiffe auf der Spree. Das Bauwerk abzureißen und neu zu bauen, dürfte teuer werden. Doch es gibt wohl keine sinnvolle Alternative. Das geht aus der Antwort des Senats auf eine Anfrage des Linke-Abgeordneten Kristian Ronneburg hervor, die der Berliner Zeitung vorliegt.
So viel steht fest: Die 180 Meter lange Betonröhre unter der Spree ist als „nicht sanierungsfähig“ eingestuft worden, teilte Staatssekretär Markus Kamrad (Grüne) mit. Schon seit einem Jahrzehnt warnt das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt, dass die extrem marode Decke des Tunnelbauwerks ein Risikofaktor sei. „Die Decke bildet an dieser Stelle die Flusssohle“, so ein Experte. Weil Beton herausgebrochen ist, liege die Gitterkonstruktion des Bauwerks bloß. Nicht ausgeschlossen, dass sich Anker darin verfangen können. Dort, wo der insgesamt 865 Meter lange und 1930 eröffnete Tunnel die Spree unterquert, muss also auf jeden Fall etwas getan werden. „Die BVG muss sich ohnehin mit diesem Bereich befassen“, hieß es. Bei dieser Gelegenheit sollte gleich ein neuer Waisentunnel entstehen – der dann wieder hundert Jahre hält. Mindestens.

Mit Kindern ohne Eltern hat das Bauwerk übrigens nichts zu tun. Den Namen hat es von der benachbarten Waisenstraße und der nicht mehr existierenden Waisenbrücke. 1980 war die Anlage und die benachbarte Wehrkammer Schauplatz einer Flucht aus der DDR. Ein Stellwerksmechaniker der Ost-Berliner Verkehrsbetriebe BVB, sein Cousin sowie dessen Frau und zweijähriger Sohn gelangten zur U8. Dort hielten sie einen Zug der BVG aus West-Berlin an – und reisten im Führerstand liegend nach Kreuzberg.
Erst rechnen, dann entscheiden: SPD und Linke fordern Prüfungen
Doch muss der Waisentunnel wirklich neu gebaut werden? In der rot-grün-roten Koalition gibt es Skepsis. Für eine Verbindung, die ausschließlich für Überführungs- und andere Betriebsfahrten benötigt wird, handele es sich um ein sehr kostspieliges Projekt, heißt es dort. Zuletzt sprach man bei der BVG von rund 50 Millionen Euro, doch der Haushalts- und Verkehrspolitiker Sven Heinemann (SPD) erwartet den doppelten Betrag. Das Landesunternehmen müsse Alternativen prüfen, fordert er.
„Die bisherigen Antworten der BVG sind keineswegs erschöpfend“, pflichtete Kristian Ronneburg (Linke) jetzt bei. „Es liegen zu den Alternativen zur Sanierung beziehungsweise zum Ersatzneubau noch keine vertieften Untersuchungen vor.“ Der Abgeordnete erwartet, dass die BVG die ersten fachlichen Einschätzungen konkret untersetzt, damit der Aufwand, die Kosten und die Zeitpläne dargestellt und abgewogen werden können. „Wir brauchen ernsthafte Prüfungen.“
Von Friedrichsfelde über Wuhletal, Neukölln und Britz nach Wedding
In diese Richtung ging auch Ronneburgs Anfrage an den Senat. Die Antwort ist umfangreich, das Fazit unmissverständlich. Bis 2016 wurde der Waisentunnel vor allem dazu gebraucht, auf der U5 eingesetzte U-Bahnen zu überführen, damit sie in der Betriebswerkstatt Seestraße in Wedding der Hauptuntersuchung F96 unterzogen werden können. Doch es gäbe auch einen anderen, wenn auch umständlichen Schienenweg. So könnten die Wagen auf der U5 nach Wuhletal rollen, von dort aus auf das Netz der Deutschen Bahn gelangen und in Neukölln auf die Neukölln-Mittenwalder Eisenbahn (NME) wechseln. Eine Weiche und ein Anschlussgleis wären erforderlich, damit sie in der U-Bahn-Werkstatt Britz-Süd ankommen. Von dort aus ginge es zur Seestraße.
Keine gute Idee, hieß es im Senat. Da zwischen der NME und dem Britzer BVG-Gelände Privatgrundstücke sowie eine Hauptverkehrsstraße liegen, sei ein „komplizierter, zeit- und kostenaufwendiger Planungs- und Genehmigungsprozess zu erwarten“, gab Staatssekretär Kamrad zu bedenken. Langes Verfahren, langer Zeitraum, hohe Kosten: Die Verwaltung teile die Einschätzung der BVG, dass dies keine vorteilhafte Lösung wäre.
Bleiben andere mögliche Optionen – zum Beispiel eine Verbindungskurve zwischen den Abstellgleisen der U5 und U8 nördlich vom Alexanderplatz oder eine Kurve zwischen den Linien U5 und U6 am Bahnhof Unter den Linden. Angeregt wird auch eine Verbindung vom Hauptbahnhof (U5) zur nördlichen Turmstraße (U9). Eingriffe in Hausfundamente wären erforderlich, komplizierte Abbrucharbeiten und Betriebsunterbrechungen wären unabdingbar, hieß es in der Senatsantwort. Kamrads Fazit ist deutlich: „Es sind über die dargestellten Varianten hinaus auch keine weiteren Alternativen für eine neue Anbindung der U5 an das U-Bahnnetz ersichtlich, die sich gegenüber dem Waisentunnel aus bautechnischen und wirtschaftlichen Gründen vorteilhaft erweisen könnten.“
Derzeit reisen die U-Bahnen mit dem Lkw durch Berlin
Anders formuliert: Es gibt keine andere Möglichkeit, als die Spreeunterquerung abzureißen und neu zu bauen – dann aber nur noch mit einer statt mit zwei Röhren. Dafür würde die Spree jeweils halbseitig gesperrt und trocken gelegt, um erst die erste, dann die zweite Hälfte errichten zu können. Bauzeit: drei bis vier Jahre. Solange muss die BVG U-Bahn-Fahrzeuge weiterhin mittels Tieflader auf der Straße transportieren. Im vergangenen Jahr wurden 64 Wagen zwischen der Betriebswerkstatt Friedrichsfelde und der Werkstatt Britz-Süd ausgetauscht. Vorlaufzeit: rund vier Wochen.
Offiziell hält sich die BVG beim Thema Waisentunnel zurück. Es sei derzeit noch ein „zu großes Feld“, um schon jetzt darüber zu entscheiden, sagte Vorstandschefin Eva Kreienkamp. „Wenn es am Ende wirklich keine realistischen Alternativen gibt, dann sollte der Neubau auch so bald wie möglich angegangen werden“, so der Linke-Politiker Kristian Ronneburg.
Am Montag äußerte sich die FDP zum Thema. „Der Berliner Senat hat es seit Jahren versäumt, ausreichend in die Instandsetzung und Sanierung des U-Bahnnetzes zu investieren. Statt vorausschauend zu planen, setzte sich der Verschleiß fort“, sagte Felix Reifschneider, der verkehrspolitische Sprecher der FDP-Fraktion. „Der Waisentunnel ist ein weiteres Beispiel für ein aufgeschobenes Problem, das sich nun mit aller Dringlichkeit stellt. Auch sollte RGR nicht voreilig die Trasse der Neukölln-Mittenwalder-Eisenbahn ausschließen. In den Berliner ÖPNV ist weiterhin zu investieren - dies muss auch endlich der Berliner Senat begreifen.“