Gastbeitrag von Mobilitätsforscher Andreas Knie zum Berliner Nahverkehr
Es gibt keine Stadt in der demokratischen Welt, die einen besseren Nahverkehr hat als Berlin. Das hat mit dem historischen Erbe zu tun. Während sich im Westen und im Osten die Planer mühten, nach dem Zweiten Weltkrieg die Zerstörungen zu nutzen und die Städte freizuräumen für Straßen und Parkplätze, blieb Berlin größtenteils verschont.
Zwar hatte man unmittelbar 1946 mit dem „Scharoun-Plan“ auch völlig auf das Auto gesetzt, der West-Berliner Senat und der Ostberliner Magistrat versuchten Autobahnen mitten durch die Stadt zu bauen. Das Auto galt als modern, und je mehr Autos eine Gesellschaft hatte, als umso höher galt das Wohlstandsniveau. Das wollten alle. Aber Berlin kam nicht voran.
Schon in den 1950er-Jahren wurden alle Pläne für Groß-Berlin auf Eis gelegt und Westberlin jedenfalls verkehrlich und politisch zu einer Insel. Spätestens mit dem Bau der Mauer 1961 ging dann in der autogerechten Gesamtplanung nichts mehr.
Die Ostberliner begannen zwar kräftig, die Stadt nach den Grundlagen der Charta von Athen locker zu gliedern, um viel Platz für Straßen zu schaffen. Der Alexanderplatz oder der neu angelegte Bezirk Marzahn dokumentieren dies bis heute, aber es gelang nicht, weil es an der notwendigen Zahl von privaten Kfz mangelte.
Im Westen war dies zwar kein Problem, aber die Menge der zugelassenen Pkw stieg deutlich geringer an als in Westdeutschland. Menschen mit dem Wunsch nach einem Reihenendhaus und einem Pkw vor der Tür hatten West-Berlin nach dem Mauerbau mehr und mehr verlassen.
Berlins Osten kam nicht richtig voran, der Westen blieb im Kalten Krieg stecken
Wachstum entstand durch Gastarbeiter, Studierende und Wehrflüchtige, durch eine Mischung aus ganz unterschiedlichen Biografien und Interessen, die der West-Berliner Innensenator Wilhelm Kewenig (CDU) in den 1980er-Jahren schon mal gerne als „Anti-Berliner“ bezeichnete. Der Westen leistete sich aber noch einen besonderen Luxus, von dem wir heute noch profitieren. Er betrachtete die auch in diesem Teil der Stadt fahrende S-Bahn als Mahnmal der Teilung, und der korrekte West-Berliner boykottierte die Bahn. Vielmehr trieb man mit viel Geld aus dem Westen den U-Bahn-Bau voran, häufig parallel zu S-Bahn Trassen.
Berlins Geschichte bleibt damit einmalig: Der Osten kam nicht richtig voran, der Westen blieb im Kalten Krieg stecken. Von dieser Entwicklung hat sich die Stadt bis heute nicht erholt – zum Glück, möchte man sagen. Die Berliner und ihre Gäste sind mit durchschnittlich mehr als 300 Fahrten pro Jahr so viel im öffentlichen Verkehr unterwegs, wie das sonst nirgendwo der Fall ist.
Berlin ist Tummelfeld für Experimente
Die Zahl der autolosen Haushalte ist immer noch höher als die mit Auto, und das Fahrrad hat bei den in Berlin zurückgelegten Wegen mittlerweile fast einen Anteil von 20 Prozent aller Wege erreicht.
Die Stadt ist Tummelfeld für Experimente. Daimler und BMW bauen Ihre digitale Zukunft hier und nicht woanders, sie wollen Berlin als Hauptstadt der Sharingdienste etablieren.
Sixt hat sich für sein neues revolutionäres Autovermietsystem Berlin ausgesucht und startet mit mehreren Tausend Fahrzeugen. Volkswagen wird unter dem Markennamen WeShare ein Carsharing-System ausschließlich mit Elektrofahrzeugen etablieren. Für die asiatischen Plattformanbieter ist Berlin der Eintritt in die Welt. Hier soll demnächst alles, was irgendwie vermietbar ist, getestet werden.
Eigentum? Brauchen wir Berliner nicht!
Berlin hat nämlich alles was man braucht: viel Platz und Menschen, die bereit sind zu experimentieren. Auch wenn sich die Stadt mächtig müht, für Menschen mit konventionellem Lebenslauf und routinierter Autonutzung ist die Stadt weiterhin nicht attraktiv.
Berlin ist plötzlich wieder Zukunft. Die Stadt demonstriert, dass die „neue Moderne“ ohne Eigentum an einem Verkehrsmittel auskommt. Ohne private Bevorratung von Autos kann alles besser fließen, und es kann sozial gerecht und nachhaltig organisiert werden.
Ohne ein privates Auto ist die individuelle Mobilität daher umso größer. Berlin lebt dies heute schon vor. Es ist schön, wenn der Berliner Senat dies jetzt auch erkennt. Aber wichtig ist es nicht mehr.