8.-Mai-Gedenken in Berlin-Pankow: Die Russen bleiben allein

Das Gedenken in der Schönholzer Heide erlebt einen Bruch. Der linke Bürgermeister Sören Benn spricht über Großmachtstreben, Völkerrecht und Waffenlieferungen.

Der Pankower Bezirksbürgermeister Sören Benn (53) am Sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer Heide.
Der Pankower Bezirksbürgermeister Sören Benn (53) am Sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer Heide.Sabine Gudath

Berlin- Pankow-Es gibt Momente im Leben eines Kommunalpolitikers, in denen er von der Weltpolitik berührt wird. Sören Benn, seit fünf Jahren Bürgermeister des Berliner Bezirks Pankow, erlebt gerade solch einen Moment. In der Schönholzer Heide liegt eines der wichtigsten sowjetischen Ehrenmale Berlins. Der russische Krieg gegen die Ukraine setzt das Gedenken unter Spannung. Jahr für Jahr hat Sören Benn am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus einen Kranz an der Bronzefigur „Mutter Heimat“ niedergelegt – morgens um zehn, gemeinsam mit Vertretern der russischen Botschaft und denen anderer ehemaliger Sowjetrepubliken, die um hier beerdigte Landsleute trauerten. Unmöglich in diesem Jahr, zehn Wochen nach dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine, da lässt Sören Benn keinen Zweifel: Dieses Jahr gibt es einen Bruch.

Schon am Morgen nach dem Überfall am 24. Februar 2022 hatte der Linke-Politiker Putins Aggression in klaren Worten verurteilt, die seine Genossin Sahra Wagenknecht nicht finden mochte. „Dieser Krieg ist keine Notwehr, sondern ein Akt imperialistischen Großmachtstrebens. Er gefährdet den Frieden weit über die Ukraine hinaus und schadet auch Russland selbst.“

Diese Haltung findet sich in der lokalen Tagesordnung für diesen Sonntag wieder: „Die traditionelle Kooperation und Abstimmung der Kranzniederlegung am Ehrenmal in Schönholz mit der russischen Botschaft ist dem Bezirksamt angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine unmöglich.“ Die diplomatischen Vertreter des Aggressors blieben am Morgen, um 10 Uhr, unter sich. Das Bezirksamt Pankow legte seinen Kranz um 13 Uhr nieder - würdevoll und ohne Störungen.

Spannungen unter den Vertretern der ehemaligen Sowjetrepubliken, die in der Schönholzer Heide Tote zu betrauern haben, habe es bereits seit der Krimbesetzung gegeben, erinnert sich der Bürgermeister. Ein Zeichen war das Auftauchen des russisch-nationalistischen Georgsbandes, dennoch kamen ukrainische, kasachische, armenische, usbekische, georgische Delegationen. Es war immer ein stilles Gedenken, die Spannungen empfand Sören Benn als „etwas Feinstoffliches“. Jetzt sind sie manifest.

Bronzetafeln mit Namen gefallener Soldaten am sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer Heide.
Bronzetafeln mit Namen gefallener Soldaten am sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer Heide.Sabine Gudath

Sein enges Verhältnis zu dem Ehrenmal bleibt davon unberührt. Er mag den Ort. Dem Vorschlag, sich zwischen den bronzenen Tafeln mit 2647 Namen von im Kampf um die Befreiung Berlins gefallenen sowjetischen Soldaten zu treffen, um über die Rückkehr des Krieges nach Europa zu sprechen, stimmte er ohne Zögern zu. Auf den Treppen unterhalb der Statue der um ihren Sohn trauernden Mutter sagt er mit Blick auf die auserlesen gut gepflegten Blumenrabatten, die Trauerweiden und Trauersymbole: „Das ist ein Andachtsraum.“ Tatsächlich suchen viele Pankower auch abseits von Feiertagen die Stille der Anlage, um die einzigartige Stimmung auf sich wirken zu lassen.

Vor Jahren hat Sören Benn ein Foto gemacht von Dingen, die wahrscheinlich Familienangehörige eines gefallenen Soldaten an einer der Namenstafeln niedergelegt hatten: ein Schwarz-Weiß-Foto eines ernst blickenden Rotarmisten, ein grüner Emaillebecher, eine Schachtel Papirossi, Schokoladentäfelchen, eine metallene Trinkflasche mit rotem Stern und der Aufschrift „Großer Vaterländischer Krieg 1941–1945“ und „Niemand wird vergessen/Nichts ist vergessen“.

Jugendliche – den „Heldentod“ gestorben

Die Anlage in der Schönholzer Heide ist der größte Soldatenfriedhof Berlins, und nun sah der Bürgermeister einen der Toten von Angesicht. „Das war ein Moment des Verstehens, dass hier 13.000 meist junge Leute liegen“, erinnern sich Sören Benn, „17-Jährige, die den sogenannten Heldentod starben, bevor ihr Leben richtig begann.“ Er habe sich gefragt, was er in dem Alter gemacht habe – vielleicht die erste Liebe erlebt.

Persönliche Erinnerungsstücke, niedergelegt am Sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer Heide
Persönliche Erinnerungsstücke, niedergelegt am Sowjetischen Ehrenmal in der Schönholzer HeideSören Benn

Und jetzt ist wieder Krieg: In Pankow leben jetzt Ukrainerinnen mit ihren Kindern, deren Männer, Väter, Söhne in der zum Kampfgebiet gewordenen Heimat geblieben sind, um diese zu verteidigen – mit der Aussicht, ihr Leben „für die Heimat zu geben“. Die Schönholzer Heide sei ein Mahnmal gegen Krieg, sagt der Bürgermeister, hier stehe Mutter Heimat mit ihrem gefallenem Sohn – es könnte ebenso eine Tochter sein, denn hier liegen auch 120 Frauen. Entsetzt nimmt er wahr, wie solche Trauerstätten in Russland nun missbraucht werden, um nationalistische Ideen zu begründen: „Eigentlich hatten wir uns doch gemeinsam darauf verständigt, dass das nie wieder sein darf.“

Sören Benn, 1968 im brandenburgischen Kyritz geboren, trat 2000 der damaligen PDS bei, weil er die deutsche Intervention in den Kosovo-Krieg falsch fand – die erste derartige Aktion seit dem Zweiten Weltkrieg: „Das war ein Völkerrechtsbruch“, sagt er. Eigentlich kommt er von der Bewegung „Schwerter zu Pflugscharen“ her, aber jetzt findet er, Waffenlieferungen an die Ukraine müssen sein. Wegen des Rechts auf Verteidigung. Denn hier solle ein Angriffskrieg erklärtermaßen dazu dienen, ein Land als Staat auszulöschen.

Waffen für die Selbstverteidigung

Anders als in den Nato-Aktionen Serbiens während der Balkankriege sieht er jetzt Russland mit dem Ziel der Grenzverschiebung, der Expansion, der Neuverteilung der Welt am Werk: „Wenn man das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung anerkennt, dann kann man nicht die Mittel dazu verweigern.“ Und: „Ließe man Russland gewähren, wäre das eine Lernerfahrung, auch für China und andere.“ Also müsse ein Stoppsignal gesetzt werden.

Der linke Kommunalpolitiker betont, er sei kein Völkerrechtler und stellt klar: An diesem Krieg in der Ukraine sei allein Putin schuld und „niemand sonst“. Und trotzdem: „Weil es über die Jahre von verschiedenen Seiten Völkerrechtsbrüche gab, ist die Autorität des Völkerrechts erodiert.“ Seine Beispiele: die US-Intervention in Irak in der „Koalition der Willigen“, der „Krieg gegen den Terror“ oder die Drohnenmorde. Man müsse nun das Völkerrecht wieder „ins Recht setzen“ und die Ukraine im völkerrechtlichen Rahmen unterstützen – also: keine aktive Beteiligung mit Manpower, keine Soldaten, keine Ausbildung. In den Diskussionen in seiner Partei über die Art der Ukraine-Hilfe erkennt er dieselbe Zerrissenheit wie in der Gesamtbevölkerung und sagt: „Ich weiß nicht, was richtig ist. Aber ich kann mir – anders als diejenigen, die Entscheidungen treffen müssen – Ambivalenzen leisten.“

„Wir haben weggesehen“

Sören Benn sieht die Versäumnisse der vergangenen Jahre: „Wir – die Gesellschaft, die Bundesrepublik, der Westen, der Osten – haben nicht reagiert, als Putin in Tschetschenien und Georgien Krieg führte, die Krim annektierte, im Donbass Ärger stiftete – das hat uns nicht aufgeschreckt.“ Das sei weit weg gewesen, man habe sich nicht gemeint gefühlt. Das habe sich mit der Ukraine geändert: „Die Reaktion jetzt ist die richtige, damals war es die falsche.“

Nun enträtselten sich auch die dunklen Sprüche, die Putin seit Jahren von sich gibt. Einer davon klingt an den Gräbern der Sowjetsoldaten, die vor 77 Jahren für die Befreiung Berlins vom Nationalsozialismus starben, besonders zynisch: „Wir haben es einmal geschafft, wir schaffen es immer wieder“, sagte Putin und stellte damit Hitlerdeutschland, das die Welt mit Krieg überzog, Millionen Tote auf dem Gewissen hat, den Holocaust ins Werk setzte, mit der Regierung in Kiew gleich. Millionen Russen folgen seiner Propaganda. Statt „Nie wieder“ sagt Putin „Gerne wieder“.

Zur Kranzniederlegung geht der Bürgermeister in diesem Jahr mit besonderer Anspannung. Gemeinsamens Gedenken mit Vertretern Russlands werde auf Jahre unmöglich sein – „jedenfalls nicht unbeschwert und nur unter hohem diplomatischem Aufwand“. Auch die gemeinsame Kriegsgräberpflege mit der Russischen Föderation sei nun jetzt am Ende.

Einladung zum individuellen Gedenken

Aber eine in vielen Berlinern fest verwurzelte Tradition werde bestehen bleiben: das private, stille Gedenken an die Befreiung Berlins von der NS-Herrschaft und die Toten. Das Bezirksamt hat alle Interessierten zum individuellen Gedenken im Laufe des Sonntags eingeladen. „Das entspricht dem Bedürfnis der Leute, das war immer so“, sagt Sören Benn. Dann steigt er aufs Fahrrad und fährt mit wehender Jacke davon. Vor dem Eingang zum Ehrenmal wachte schon in den Tagen vor dem 8. Mai ein Streifenwagen der Polizei und die Absperrgitter stehen bereit.