Gedenkfeier zum 65. Jahrestag des 17. Juni: „Wir waren gegen die Normerhöhung“

Am Morgen des 17. Juni 1953 gehen die Arbeiter vom VEB Holzwerk in Hohenschönhausen nicht in ihren Betrieb, sondern auf die Straße. Günther Dilling ist 19, ein Tischlergeselle. Er fertigt Möbel, die nach Westdeutschland geliefert werden.

Ein Möbelstück pro Tag muss Dilling schaffen, so legt es der Plan fest. Doch dann wird den etwa 600 Arbeitern mitgeteilt, dass die SED-Führung die Norm um 10,3 Prozent erhöht. Die Arbeiter protestieren. „Wir waren sehr unzufrieden, denn der Lohn blieb gleich. Da haben wir uns auf unser Streikrecht besonnen“, sagt Dilling. Der Tischlergeselle arbeitet in der Jugendbrigade, die älteren Kollegen drücken ihm am Morgen des 17. Juni eine Deutschlandfahne in die Hand, als sie zum Haus der Ministerien in die Leipziger Straße ziehen. Dilling geht vorneweg – so wird er zum Streikführer.

Gegen Normerhöhungen und die Regierung

Genau 65 Jahre ist das her. Günther Dilling ist nun 84, und an diesem Sonntagvormittag sitzt er mit seiner Frau und weiteren Teilnehmern der Proteste am Mahnmal für die Opfer des Volksaufstandes auf dem Friedhof an der Seestraße in Wedding. Dort gedenkt die Bundesregierung anlässlich des 65. Jahrestages der vielen Opfer der Revolte.

In mehr als 700 Städten der DDR gingen hunderttausende Menschen auf die Straße, sie protestieren gegen die Normerhöhungen und gegen die Regierung. Sie fordern freie Wahlen, die Wiedervereinigung und die Ablösung von Staatschef Walter Ulbricht.

Für Freiheit und Demokratie streiten

Die DDR-Regierung spricht von einer „faschistischen Provokation“, von Konterrevolution. Die Sowjetunion verhängt den Ausnahmezustand, setzt Panzer und Soldaten ein. Militär, Volkspolizei und Stasi schlagen die Proteste blutig nieder. Viele Menschen sterben, viele Aufständische werden verurteilt.

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD), der derzeit auch Präsident des Bundesrates ist, sagt am Sonntag am Mahnmal: „Wir verneigen uns vor den Opfern und wir verspüren tief empfundenen Respekt angesichts ihres großen Mutes.“ Ihr Andenken zu ehren, heiße auch, heute für Freiheit und Demokratie zu streiten. „Wer gegen unserer demokratische, offene und vielfältige Geschichte hetzt, steht für das genaue Gegenteil dessen, wofür die Menschen vor 65 Jahren auf die Straßen gingen.“ Dann reicht Michael Müller den Zeitzeugen die Hand.

„Wir wollten keine Gewalt“

Als Günther Dilling und die Kollegen auf ihrem Protestmarsch am 17. Juni 1953 im Zentrum von Ost-Berlin ankommen, stehen dort sowjetische Panzer, die Arbeiter brüllen und werfen Steine auf die Panzer. Dilling sieht, wie ein 16-Jähriger von einem Panzer überrollt wird. Er ist schockiert. Mit seinen Kollegen zieht er sich zurück. „Wir wollten keine Gewalt“, sagt er. Am nächsten Tag verhaftet ihn die Stasi, im Gefängnis wird er misshandelt, später zu fünf Jahren Haft verurteilt, wegen Zusammenrottung und Widerstand gegen die Staatsgewalt.

Nach elf Monaten Haft spricht ihn die Stasi an, er soll den Gemeindepfarrer bespitzeln. Er unterschreibt, wird entlassen und flieht drei Monate später nach West-Berlin.

Ein prägender Tag

Staatsministerin Monika Grütters sagt am Sonntag, die DDR werde im Stadtbild heute oft bagatellisiert in Gestalt von Trabi-Safaris, Vopo-Mützen und Nostalgie-Souvenirs. „Doch die DDR war ein Unrechtsstaat, der seine Gegner schikanierte und jedes Infragestellen staatlicher Autorität im Keim erstickte.“

Günther Dilling lebt heute in Niedersachsen. „Aber mein Grab werde ich in Berlin haben“, sagt er. Ein Platz sei reserviert, gleich am Mahnmal für die Opfer des Volksaufstandes am 17. Juni 1953. Denn dieser Tag hat sein gesamtes Leben geprägt.