Gedenktag am Breitscheidplatz: Stille Trauer, späte Selbstkritik
Er ist der Mittelpunkt des lauten, bunten Weihnachtstrubels. Doch an diesem Dienstag ist der Breitscheidplatz ein Ort der Stille – und der Ort der Trauer- und Gedenkveranstaltungen für die zwölf Opfer und die mehr als 70 Verletzten des Terroranschlags vor einem Jahr. Neben der Gedächtniskirche, wo der Islamist Anis Amri einen Lastwagen in die Menge steuerte, wird das Mahnmal zum Gedenken an die Opfer enthüllt. Ein goldfarbener Riss geht durch die Stufen zur Kirche, links und rechts stehen die Namen der Opfer. Es ist eine schlichte Zeremonie, der Weihnachtsmarkt ist geschlossen, der Platz weiträumig abgesperrt. Erst am Nachmittag ist er wieder für die Bevölkerung zugänglich.
Der Vormittag gehört den Opfern, den Toten wie den Verletzten, den zahlreichen Helfern, ob sie nun zufällig vor einem Jahr am Ort des Geschehens gewesen sind oder aus beruflichen Gründen wie Sanitäter und Polizisten. Der Tag beginnt mit einer interreligiösen Andacht in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Mitglieder der Bundesregierung wie Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sind gekommen. Es ist auch der Tag, an dem die Vertreter des Staates Fehler einräumen. Zur Wahrheit gehöre, dass manche Unterstützung für Opfer zu spät kam, sagt Steinmeier. Und man müsse sich die Frage stellen, ob man alles unternehme, um solche Anschläge zu verhindern.
Müller bittet um Verzeihung
Der evangelische Landesbischof Markus Dröge bezieht sich in seiner Ansprache auf den Schrecken, den dieser Anschlag verbreitet hat, bei Angehörigen, aber auch bei Menschen, die gar nicht am Ort des Geschehens gewesen sind. „Die Erfahrungen des 19. Dezember 2016 werden uns weiter durch das Leben begleiten. Sie werden eingeschrieben bleiben in die Geschichte unserer Stadt Berlin.“ Im Anschluss an die Andacht wird das Mahnmal vor der Kirche enthüllt. Am Dienstag haben die Organisatoren neben dem goldenen Riss weiße Rosen abgelegt. Angehörige stellen Fotos und Kerzen zu den Namen und vollenden das Gedenkzeichen, wie das Mahnmal genannt wird, indem sie ein fehlendes Stück des goldenen Bandes ergänzten.
„Wir sind an diesem Tag in Stille vereint. Heute halten wir alle inne. Ein Moment der Stille kehrt im Zentrum Berlins ein“, sagt der Regierende Bürgermeister Michael Müller. Der Attentäter habe alle Menschen und auch die Menschlichkeit getroffen, er habe den Frieden getroffen. Dieser Anschlag habe tiefe Wunden hinterlassen, die nicht geheilt, nur gemildert werden könnten – auch in den Herzen der Menschen in Berlin. Der Riss symbolisiere diese Wunden. „Aber wir wollen den Riss, der durch unsere Gesellschaft geht, überwinden“, sagt Müller. Das Gedenkzeichen sei deshalb auch ein Symbol für Toleranz und gegen Verbohrtheit.
Später, bei der Gedenkfeier im Abgeordnetenhaus, erinnert der Senatschef auch an die Pannen bei den Ermittlungen gegen den Täter und Versäumnisse der Behörden nach dem Anschlag. Und dann: „Als Regierender Bürgermeister bitte ich Sie um Verzeihung.“ Als Konsequenz habe Berlin als erstes Bundesland eine zentrale Anlaufstelle für Anschlagsopfer eingerichtet.
Lichterkette und Kirchenglocken
Nach der Enthüllung des Gedenkzeichens tritt die Kanzlerin vor die Presse. „Ich habe gestern mit den Hinterbliebenen und den Verletzten gesprochen“, sagt eine sichtlich bewegte Merkel. Es sei ein sehr offenes und schonungsloses Gespräch gewesen, das die Schwächen des Staates gezeigt habe. „Für mich heißt das, daran zu arbeiten.“ Sie werde die Angehörigen und Verletzten in einigen Monaten noch einmal treffen und ihnen sagen, was in Zukunft anders gemacht werden soll. „Heute ist ein Tag der Trauer, aber auch ein Tag des Willens, das, was nicht gut gelaufen ist, besser zu machen.“
Im Anschluss an eine Mahnwache auf dem Breitscheidplatz und einem Ökumenischen Friedensgebet in der Gedächtniskirche versammeln sich etwa 1000 Menschen zu einer Friedenskundgebung und bilden eine Lichterkette um die Kirche. Dabei werden die Namen der zwölf Todesopfer verlesen. Zum Zeitpunkt des Anschlages um 20.02 Uhr läuten die Glocken der Gedächtniskirche zwölf Minuten lang.