Generationenforscher: Wir haben die Kinder zu einer Angst-Generation gemacht
Klimakollaps, Pandemie, Krieg. Junge Menschen wachsen umgeben von Krisen auf. Aber haben sie deswegen auch Angst? Generationenforscher Rüdiger Maas widerspricht.

Zukunftsangst. Klimaangst. Lebensangst. Schaltet man das Radio oder den Fernseher an, dann ist immer häufiger die Rede davon, dass junge Menschen voller Sorge in die Zukunft blicken. Kinder wollen sie auch keine mehr bekommen, denn die Welt stehe ja sowieso kurz vor dem Aus. „Angst-Generation“ und „Krisen-Generation“ sind Begriffe, die in diesem Zusammenhang gern verwendet werden.
Auch bei den Klimaaktivisten der Letzten Generation ist der Name Programm. Aber ist es wirklich wahr, dass junge Menschen heute mehr Angst vor der Zukunft haben als Jugendliche vor 20, 30 oder 40 Jahren?
Mit diesen und ähnlichen Fragen setzten sich Generationenforscher auseinander. Rüdiger Maas, Mitgründer des Instituts für Generationenforschung, ist einer von ihnen. Gemeinsam mit seinem Team, bestehend aus Psychologen, Soziologen, Politologen und fachübergreifenden Forschern, untersucht Maas generationale Unterschiede. Der Zukunftsforscher nutzt dabei die gängigen Einteilungen, die in den vergangenen Jahren gesellschaftlich viel diskutiert werden. Begriffe wie „Baby-Boomer“ oder „Millennials“ sind den meisten bekannt.
Fünf generationale Faktoren sind besonders relevant
Maas berücksichtigt mit seinem Team vor allem sogenannte Erlebnishorizonte. Ausgegangen von der heutigen modernen Zeit werden verschiedene Einflussfaktoren untersucht, auf ihre prägende Komponente hin betrachtet und im zeitlichen Kontext verortet. Dabei stellt sich das Forschungsteam unter anderem folgende Fragen: Welchen Einfluss werden die berücksichtigten Faktoren auf spätere Denkstrukturen haben? Wie stark werden die untersuchten Faktoren von anderen Einflüssen verzerrt?
Fünf übergeordnete Faktoren, die nicht getrennt voneinander berücksichtigt werden können, sind Maas zufolge besonders relevant: „die Eltern, die Gesellschaft, die Digitalisierung, die Übersättigung und der Wohlstand“. Die Vorgehensweise ist äußert komplex und vielschichtig. „Bei vielen Faktoren lässt sich noch gar nicht sagen, wie diese die Denkstruktur in Zukunft beeinflussen werden, da wir noch gar nicht wissen, wohin die Reise geht.“

Die Darstellung von Problemen macht junge Menschen hoffnungslos
Wie sehr junge Menschen von bestehenden Krisen und gesellschaftlichen Konflikten beeinflusst werden, ist zum jetzigen Zeitpunkt also nicht abschließend feststellbar. Dennoch konnte der Generationenforscher mithilfe einer Studie nachweisen, dass die junge Generation in hohem Maß hoffnungslos und hilflos ist. Verglichen mit vorherigen Generationen haben sich diese Faktoren intensiviert.
„Das kann darauf zurückgeführt werden, dass Krisen immer mehr in den Fokus genommen werden – Ukraine-Krieg, Pandemie, die globale Erwärmung. Die Darstellung dieser gesellschaftlichen Probleme vermittelt den jungen Menschen oft, dass sie keine Zukunft mehr haben werden“, so Maas. Worte wie „Klimakollaps“ und „Apokalypse“ prägen das Denken von Heranwachsenden: „Wenn junge Menschen mit diesen Worten täglich konfrontiert werden, dann nehmen sie das auch ernst.“
Angst ist nicht gleich Angst
Wenn aber die Rede von der „Angst-Generation“ ist, dann muss laut Rüdiger Maas immer berücksichtigt werden, aus welcher Perspektive diese Zuschreibung getroffen wird: „Wenn wir die Perspektive der Älteren einnehmen, dann haben wir ein ganz anderes Verständnis davon, was Angst bedeutet.“ Ihre Definition von Angst gründet sich vor allem auf der Angst vor Kriegen, Krankheiten und existenziellen Verlusten.
Junge Menschen hingegen leiden laut Maas viel mehr unter Versagensängsten und unter dem Druck, sich bei all den Möglichkeiten für das Richtige zu entscheiden. Auch der stetige Vergleich auf den sozialen Medien kann als eine moderne Form von Angst betrachtet werden. Sich in diese Angstwahrnehmung hineinzuversetzen, fällt älteren Generationen nicht leicht.
Die Wahrnehmung der Welt wird zum großen Teil durch äußere Einflüsse mitkonstruiert. Umso öfter die heranwachsende Generation als „Angst-Generation“ bezeichnet wird, umso mehr verankert sich dieser Gedanke im Inneren jedes Einzelnen. Rüdiger Maas bezeichnet diesen Prozess als „selbsterfüllende Prophezeiung“. Die junge Generation empfindet also deswegen Angst, weil ihnen diese zugeschrieben wird.
Im Grunde nicht. Maas dazu: „Wir verbauen den Kindern kognitiv die Zukunft, wenn wir ihnen ständig negative Dinge einreden.“ Seiner Meinung nach ist es die Aufgabe der Erwachsenen, den jungen Menschen Hoffnung zu geben und ihnen Mut zu machen. Vor allem in Bezug auf den Klimawandel „brauchen wir Hoffnung und nicht Wut, Angst oder Trauer“.
Zuschreibungen von Gefühlen helfen nicht weiter
Ein möglichst neutraler Austausch zwischen den Generationen, ohne indirekte Zuschreibungen und Unterstellungen, ist vor allem in Zeiten des Umbruchs wichtig. Wenn in einer Gesellschaft zunehmend die Rede von Krieg und Krise ist, dann lösen diese Worte bei Menschen, die in ihrem Leben bereits Kriegserfahrung gesammelt haben, bestimmte Emotionen aus – beispielsweise Angst.
Die jüngere Generation hat jedoch größtenteils keine konkreten Vorstellungen von Krieg und damit verbundenen Gefühlen. Ältere Menschen sollten also nicht davon ausgehen, dass jungen Menschen in Krisensituationen gleich empfinden. Unterscheidet sich die jetzige Generation tatsächlich so drastisch von den vorherigen Generationen?

Generationenforscher stellen konträre Entwicklung fest
Generationenforscher konnten tatsächlich eine ambivalente Entwicklung feststellen, die vor allem junge Personen betrifft. Einerseits ist der moralische Anspruch bei jüngeren Menschen stark gestiegen. Andererseits ist das Empathievermögen aber deutlich gesunken. Maas: „Die Menschen werden toleranter und gleichzeitig ignoranter. Diese gegensätzliche Bewegung nehmen wir momentan ganz stark wahr.“
Die Konsequenz: Passen sich ältere Menschen nicht an die neue Toleranznorm an, dann führt das zu Unverständnis und Wut. Zwei Weltanschauungen prallen aufeinander, keine Seite möchte mehr mit der anderen Seite sprechen. Auch innerhalb einer Generation bilden sich zunehmen zwei polarisierte Lager – Progressive und Konservative.
„Analoge Gedanken wird es in Zukunft nicht mehr geben“
Rüdiger Maas erklärt diese Entwicklung so: „Die Ambiguitätstoleranz nimmt immer mehr ab und das bedeutet, dass wir immer weniger Meinungen akzeptieren. Es gibt nur noch Befürworter oder Gegner.“ Mangelnde Ambiguität bedeutet, dass Unsicherheiten immer weniger zur Kenntnis genommen und akzeptiert werden. Der Dialog zwischen zwei Seiten, die nicht einer Meinung sind, wird kaum noch geführt.
Dabei ist sich der Generationenforscher sicher, dass ein gemeinsamer Austausch prinzipiell möglich ist. Eine Bedingung ist, dass sich Ignoranz und Ablehnung einem grundlegenden Austausch und Verständnis weichen.
Aufgrund der Digitalisierung haben sich nicht nur die Gesellschaft, das alltägliche Leben und der gesellschaftliche Diskurs verändert. Auch das Denken und Handeln ist ein anderes. „Analoge Gedanken wird es in Zukunft nicht mehr geben“, sagt Maas. Kinder wachsen heutzutage in einer hoch digitalisierten Welt auf. Ein Leben ohne Wifi und Smartphone existiert für die meisten nicht.
Diese Veränderungen sind einerseits mit möglichen Risiken verbunden, beispielweise in Form von Cybermobbing und einem hohen Maß an digitaler Abhängigkeit. Auf der anderen Seite wachsen Kinder in Deutschland und im Großteil von Europa in einem nie da gewesenen Wohlstand auf. Sieht man von individuellen Ängsten ab, dann wachsen Kinder im Grunde genommen angstfrei auf. Aber was ist beispielweise mit dem Ukraine-Krieg oder den Folgen der Corona-Pandemie?
Jungen Menschen wird die Hoffnung genommen
„Kinder denken sehr viel abstrakter, als wir es uns vorstellen. Wenn wir vom Krieg in der Ukraine sprechen, dann können sich die wenigsten Kinder wirklich etwas darunter vorstellen“, so Maas. Nur weil ältere Generationen sich um die heranwachsenden Generationen sorgen, muss das nicht heißen, dass junge Menschen diese sorgenvollen Empfindungen teilen.
Dass sich die Lebenswirklichkeiten der Älteren von denen der Jüngeren unterscheiden, lässt sich nicht abstreiten. Aber Rückschlüsse zu ziehen, ohne vorher mit den Personen zu sprechen, die davon tatsächlich betroffen sind, führt nur dazu, dass sich eine Generation der Angst hingibt, die ihr von außen zugeschrieben wird.