Hausarztmangel in Berlin-Lichtenberg: „Wir nehmen keine neuen Patienten mehr an“

Dem Bezirk droht eine Unterversorgung. Patienten suchen oft vergeblich nach Hausärzten. Die KV Berlin steuert dagegen. Aber das Problem löst das nicht.

Hausärztin Christina  Vargas beim Ultraschall in der KV-Praxis Berlin-Karlshorst.
Hausärztin Christina Vargas beim Ultraschall in der KV-Praxis Berlin-Karlshorst.Volkmar Otto

Sie bekommen Verstärkung. Susanne Hemmen von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) hat das gerade ihrem Team verkündet. Zuerst natürlich Christina Vargas, der Hausärztin, die sich freut, bald schon einen neuen Kollegen an ihrer Seite zu haben. Ihre Praxis befindet sich an der Rheinpfalzallee. Weiße Wände, auf die an diesem Morgen die Sonne fällt. Die Fenster im Erdgeschoss sind hoch und breit.

Hier in Karlshorst, Bezirk Lichtenberg, hat die Kassenärztliche Vereinigung Berlin vor etwa einem Monat eine eigene Praxis eröffnet. Die zweite nun schon, die erste befindet sich in Neu-Hohenschönhausen, in Marzahn-Hellersdorf soll demnächst eine weitere an den Start gehen.

Susanne Hemmen ist Geschäftsführerin der KV Praxis Berlin GmbH und diese wiederum ist eine Antwort auf die immer drängendere Frage: Wie bekommt man Hausärzte in ein Viertel, in dem es zu wenige Praxen gibt? Wie lockt man Mediziner in diese Lichtenberger Siedlung, die mit ihren Einfamilienhäusern und Vorgärten eher an Provinz als an Hauptstadt denken lässt und nun auch tatsächlich mit einem Problem kämpft, das vor allem auf dem Land zu vermuten ist.

An Lichtenberg lässt sich erkennen, was vielen anderen Quartieren der Hauptstadt schon bald drohen könnte: „Rund 2000 Patienten kommen auf einen Hausarzt. Das ist sehr viel“, sagt Susanne Hemmen. „Wir können allerdings nicht von einer Unterversorgung sprechen.“ Noch nicht. Die ist bei einem Versorgungsgrad von weniger als 75 Prozent erreicht. 79,8 Prozent beträgt er in Lichtenberg. Das bedeutet in der Statistik der KV Berlin den letzten Platz hinter Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick. Unwesentlich besser sieht es in Spandau und Reinickendorf aus. Dagegen erfreut sich Charlottenburg-Wilmersdorf großer Beliebtheit unter Hausärzten. Mit einem vergleichsweise üppigen Angebot von 129 Prozent behauptet der Bezirk in der KV-Statistik die Tabellenführung.

Die geografischen Randlagen geraten zusehends auch medizinisch ins Abseits. Hinter den nüchternen Zahlen stehen Tausende Krankengeschichten, verbergen sich Odysseen von einer Praxis zur nächsten, Geschichten von Frust und Verzweiflung und der Satz, den Lichtenberger immer wieder hören müssen: „Wir nehmen keine Patienten mehr an.“ 

Junge Familien mit Kindern ziehen nach Karlshorst

Was das mit den Menschen macht, bekommt Christina Vargas im Kiez rund um die Rheinpfalzallee jeden Tag zu spüren. An diesem Morgen bereitet sich die Hausärztin auf die ersten Akutfälle vor, hat bereits den blauen Pullover übergezogen mit dem Logo, das sie als Mitarbeiterin der KV-Praxis ausweist. Um ihren Hals hängt ein Stethoskop. Das Sprechzimmer liegt an einem langen Flur zwischen dem Wartebereich und einem Funktionsraum mit Ultraschallgerät und der übrigen technischen Ausrüstung. „Der Zulauf wächst kontinuierlich“, sagt Vargas, während sie auf ihrem Schreibtisch zurechtlegt, was sie nachher benötigen wird. „Es spricht sich herum, dass es jetzt diese Praxis gibt, unter Nachbarn, in der Familie.“

Karlshorst, aber auch Friedrichsfelde gehören zum Einzugsgebiet. „Hellersdorf sowieso“, erzählt Beatrix Brockmeyer, eine der zwei Medizinischen Fachangestellten (MFA) an der Rheinpfalzallee. Auch sie trägt das Blau der KV-Praxis, auch sie startet ihren Computer, damit es gleich am Empfangstresen losgehen kann. „Viele akute Fälle von weiter her stellen sich bei uns vor“, sagt sie. „Praxen in Hohenschönhausen schicken zum Beispiel ihre Patienten zu uns, weil ihre Sprechstunden übervoll sind.“

Neulich kamen zwei Grippepatienten direkt hintereinander durch die gläserne Eingangstür, froh, diesmal nicht weggeschickt zu werden. Sie hatten schon in drei anderen Praxen vorgesprochen. „Junge Menschen“, so beschreibt Brockmeyer die beiden. Die Katholische Hochschule für Sozialwesen liegt um die Ecke, die Hochschule für Technik und Wirtschaft ist nicht weit. Auch das merken sie in der Karlshorster KV-Praxis. Sie befindet sich im selben Gebäude wie ein Seniorenheim, praktisch sei das, doch ihre Klientel gemischt, sagt Brockmeyer: „Wir haben in unserem Einzugsgebiet etliche junge Familien, die zugezogen sind.“

Knapp 40.000 Geburten im vergangenen Jahr führten dazu, dass Lichtenbergs Standesämter mit der Beurkundung nur mühsam hinterherkamen, Eltern bis zu 16 Wochen auf das Dokument warten mussten. Im Kiez verdichtet sich die rasante Entwicklung der Stadt insgesamt wie unter einer Lupe. „Nicht weit von hier wird gerade ein sehr großes Areal bebaut“, berichtet Susanne Hemmen. Etwa einen Kilometer Luftlinie entfernt wachsen an der S-Bahn neue Wohnblocks aus dem Boden. Doch die Infrastruktur hält nur schwer Schritt. 

In der Karlshorster KV-Praxis merken sie hautnah, was es bedeutet, dass sich Berlin permanent vergrößert, an manchen Stellen aus allen Nähten zu platzen droht und dies in mancher Hinsicht bereits tut: in medizinischer Hinsicht zum Beispiel. Lichtenberg zieht seit Jahren neue Bewohner an, seit 2010 verzeichnet der Bezirk ein Plus von 51.000 Menschen, ist um die Größe der Stadt Goslar im Harz auf derzeit 304.500 gewachsen, was ungefähr der Einwohnerzahl von Karlsruhe entspricht. Tendenz weiter steigend. Die meisten Zugezogenen sind zwischen 27 und 55 Jahre alt.

Diesem anhaltenden Plus steht bei den Hausärzten ein ebenso kontinuierliches Minus gegenüber. Noch sind in einem Radius von rund anderthalb Kilometern um die KV-Praxis 18 Niedergelassene aktiv, ein beträchtlicher Teil von ihnen wird jedoch innerhalb des kommenden Jahrzehnts in Rente gehen. In Lichtenberg, ebenso wie in Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick, sind mehr als 40 Prozent der Hausärzte älter als 55. „Uns fragen schon jetzt Ärzte, die bald in den Ruhestand gehen, wohin sie ihre Patienten schicken sollen“, sagt KV-Praxismanagerin Susanne Hemmen.

Auch dieses Problem hat Lichtenberg nicht exklusiv, der Berliner Bezirk steht für eine Entwicklung, die stadtweit, ja bundesweit zu einer Herausforderung werden wird, schon jetzt eine ist. Die Generation der Babyboomer zieht sich allmählich aus dem Berufsleben zurück. Die geburtenstarken Jahrgänge der 60er-Jahre hinterlassen in allen Branchen eine Lücke, doch nirgendwo sonst werden die Folgen derart gravierend sein wie im Gesundheitswesen. Denn während das Angebot an Medizinern deutlich abnimmt, wächst die Nachfrage nach ihrer Dienstleistung stark an: nach Heilung und Vorsorge.

Die Gesellschaft wird immer älter, dem medizinischen Fortschritt sei Dank. Aber Einstellungen und Ansprüche verändern sich: Immer weniger junge Ärzte wollen das Risiko einer Selbstständigkeit eingehen, sich der hohen Belastung aussetzen. „Zu der Arbeit direkt am Patienten kommt ja noch die Bürokratie, die nach den Sprechstunden zu erledigen ist“, sagt Geschäftsführerin Hemmen. Hausärzte sind im Durchschnitt 50 Stunden in der Woche im Einsatz.

Mit einem modernen Verständnis von Berufsleben hat das wenig zu tun, mit der Vereinbarkeit von Job, Familie, Freizeit, der sogenannten Work-Life-Balance. Knapp ein Drittel der ambulant tätigen Mediziner in Deutschland zieht inzwischen einen Job als Angestellter vor, zum Beispiel in einem Medizinischen Versorgungszentrum (MVZ). Obwohl diese MVZ dafür bekannt sind, an Gewinn ausgerichtete Unternehmen zu sein. In Berlin sind es nach einer Erhebung der Kassenärztlichen Vereinigung 29 Prozent der Hausärzte, die lieber als Gehaltsempfänger heilen.

Die Ärzte in den Berliner KV-Praxen sind ebenfalls angestellt. Alles, was nicht unmittelbar mit den Patienten zu tun hat, soll von ihnen möglichst ferngehalten werden. „Ich habe einen geregelten Acht-Stunden-Tag“, sagt Christina Vargas. „Wir versuchen, uns organisatorisch weiterzuentwickeln, um dem Ansturm weiter gewachsen zu sein.“ Sie versuchen auch, mit den eigenen Kräften hauszuhalten. „Denn überarbeitete Ärzte können auf Dauer ihrer Verantwortung nicht gerecht werden.“

Ärzte in Berlin: Trend zur Teilzeit hält an

Sie spricht von einer Abwärtsspirale: Mehr Belastung führt zu weniger Ärzten, führt zu noch mehr Belastung – auch darin könnte ein Grund für den Mangel liegen. Eine reduzierte Arbeitszeit scheint eine weitere mögliche Strategie dagegen zu sein, der immer mehr Ärzte folgen. Von den zwei Medizinern der KV-Praxis in Neu-Hohenschönhausen ist eine in Teilzeit tätig. Auch das steht für einen allgemeinen Trend: Fast jede zweite fest angestellte Hausärztin arbeitet verkürzt, bei den männlichen Kollegen sind es lediglich 27 Prozent. Moderne Work-Life-Balance mit klassischen Rollenbildern.

Für die dritte KV-Praxis sucht Susanne Hemmen momentan nach Verstärkung. Die ist nicht so leicht zu finden. „Welcher Arzt möchte schon gern eine Stunde quer durch die Stadt zu seiner Praxis fahren?“ Zumal die Übernahme einer Praxis teuer ist, ein Einsteiger viel investieren muss, in Technik, Patientenstamm, dafür Kredite aufnimmt und sich über lange Zeit an den Standort bindet, über 20, vielleicht 30 Jahre.

Ronja Andresen ist die zweite Medizinische Fachangestellte der Lichtenberger KV-Praxis, sie hat es nicht weit bis zur Siedlung in Karlshorst. Sie wurde über ein Jobportal auf die Stelle in der neuen KV-Praxis aufmerksam, Kollegin Brockmeyer über ein Plakat in der U-Bahn. Die Kassenärztliche Vereinigung Berlin investiert viel: an Ideen, aber auch an Geld. 21 Millionen Euro umfasst ein Förderprogramm, getragen von den Mitgliedern, den Praxen. Wer sich in einem der strukturschwachen Bezirke niederlässt, kann eine mittlere fünfstellige Summe als Starthilfe beanspruchen: „Erstattung der Investitionskosten von bis zu 60.000 Euro“, nennt sich das in der Ausschreibung. 

Insgesamt 135 offene Hausarztsitze gibt es zusammen in Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick. Sie alle lassen sich nicht durch KV-Praxen ersetzen. Das Problem muss grundsätzlich gelöst werden, in allen Bundesländern, deutschlandweit; darüber sind sich die niedergelassenen Hausärzte und ihre Organisationen im Klaren. Die Politik scheint die aufziehende Katastrophe wenigstens zu erahnen.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) erkannte unlängst, dass mindestens 5000 Medizinstudenten nötig wären, um dem Abschied der Babyboomer zu begegnen. Genug Geld müsste im Gesundheitssystem vorhanden sein: 1,2 Milliarden Euro werden pro Tag umgesetzt. Ob Lauterbach aus seiner Analyse die richtigen Schlüsse zieht, bleibt abzuwarten. Das Zusammenspiel von Krankenhäusern, Praxen und MVZ will er gesetzlich und damit wirtschaftlich neu organisieren. Lobbyisten haben an dem Vorhaben mitgewirkt, Lobbyisten arbeiten dagegen an. Auch diejenigen, die für die Rechte der Patienten eintreten, die Solidargemeinschaft somit, sie finanziert das System.

Die Diagnose ist gestellt, die Therapie unklar, Berlin ein Beispiel für mögliche Konsequenzen, Lichtenberg ein Blick in die Zukunft. Susanne Hemmen sagt: „Die KV-Praxen helfen, den Abwärtstrend zu stoppen.“ Umkehren können sie ihn aber nicht. 

Die Geschäftsführerin muss sich verabschieden. Sie hat einen Termin. Sie trifft sich mit einem Bewerber zum Vorstellungsgespräch, mit einem Arzt. Und hier, in der Praxis in Karlshorst, wird sich gleich die Tür öffnen. Die ersten Patienten werden ihre Gesundheitskarte aus der Jackentasche holen. Beatrix Brockmeyer wird fragen: „Sind Sie bei uns bereits Patient?“ Und es klingt wie eine freundliche Begrüßung. Als würde alles wieder gut.