Streit ums Gesundheitsamt Neukölln: „Das hier ist ein kopfloser Affenstall“

Neukölln hat seit vielen Monaten keinen Amtsarzt. Grund ist ein Konflikt unter Beamten. Es geht auch um Machtmissbrauch. Leidtragende sind die Neuköllner.

Ein Flur im Gesundheitsamt Neukölln
Ein Flur im Gesundheitsamt NeuköllnBenjamin Pritzkuleit

Der Ernstfall ist erdacht, aber denkbar. Er könnte so aussehen: Ein Mann läuft Amok. Mitten am Tag, mitten in Neukölln, an einem belebten Ort, mit einem Messer bewaffnet. Er verletzt mehrere Menschen, einige lebensgefährlich. Dass der Mann verhaltensauffällig ist und für die Allgemeinheit gefährlich sein könnte, wissen die Behörden, der sozialpsychiatrische Dienst ist alarmiert. Jemand hätte ihn also in eine Einrichtung einweisen müssen, die sich um solche Patienten kümmert; jemand, der dazu berechtigt ist, der abwägt zwischen persönlicher Freiheit und allgemeiner Sicherheit.

Ein Amtsarzt. Den hat Neukölln seit sieben Monaten nicht. Neukölln hat deshalb ein Problem, genauer: 327.000 Menschen haben es. So viele leben in diesem Berliner Bezirk.

Der bisher verantwortliche Amtsarzt Nicolai Savaskan ist vom Dienst freigestellt, ein Nachfolger nicht in Sicht, das Gesundheitsamt ohne Führung. Diejenige, die ihn von seinen Aufgaben entbunden hat, ist seit fünf Monaten krankgeschrieben: Mirjam Blumenthal (SPD), Neuköllns Gesundheitsstadträtin, wird durch Bezirksbürgermeister Martin Hikel vertreten. Ihr Parteikollege verantwortet kommissarisch einen der kniffligsten Bereiche in einem Teil der Stadt, der reich an Herausforderungen ist. Der eigentlich keine weiteren Probleme gebrauchen kann. Schon gar keine hausgemachten.

Davon handelt also diese Geschichte. Sie dreht sich um einen Konflikt zwischen der Politik und einem Beamten, dem nicht ohne weiteres gekündigt werden kann. Ihm wird vorgeworfen, ein „von Entwürdigungen und Beleidigungen gekennzeichnetes Umfeld“ geschaffen zu haben. Er konstatiert auf der anderen Seite ein „Führen mit autoritärem Verhalten und Mobbing“. Es ist ein Kampf um Kompetenzen und Macht, in dem ein fragwürdiger Umgang mit sensiblen Daten eine zentrale Rolle spielt. Daten von Patienten. Auch von Mitarbeitern. Rund 700 sind im Geschäftsbereich Jugend und Gesundheit tätig.

Einer aus dem Gesundheitsamt sagt über die aktuelle Lage: „Das hier ist ein kopfloser Affenstall.“ Er möchte anonym bleiben, wie die meisten, die sich als Zeugen anbieten, weil sie wollen, dass sich etwas ändert. Denn am Ende könnte es in der Auseinandersetzung nur Verlierer geben, die Bewohner Neuköllns zählen im Ernstfall dazu. Ein Amtsarzt erfüllt eine wichtige Funktion in der Daseinsvorsorge, erklärt der Mitarbeiter: „Er wird zum Beamten ernannt, nur so kann er hoheitliche Rechte ausüben.“ Das heißt für Neukölln: „Jede Anordnung, die derzeit gegeben wird, ist im Grunde nicht rechtskräftig.“ Zum Beispiel: „Wenn eine Corona-Teststelle wegen Unregelmäßigkeiten geschlossen werden muss, fehlt der Chef, in dessen Auftrag das geschieht.“

Beunruhigende Berichte aus dem Amt

Es gibt weitere beunruhigende Berichte aus der Behörde. „Wir befinden uns in einem Machtvakuum, wir müssen bei allem nachfragen, und es dauert ewig, bis etwas genehmigt wird“, erzählt jemand. Neulich sei deshalb ein Forschungsvorhaben fast gescheitert. Gesundheitsämter analysieren, wie gut die Bevölkerung medizinisch versorgt ist, um bei Bedarf gegensteuern zu können. „Wenn zum Beispiel festgestellt wird, dass Kinder im Norden Neuköllns häufiger Karies haben als im Süden. Oder wenn Therapieplätze für die vielen Kinder fehlen, die stark unter der Pandemie gelitten haben.“ In dem konkreten Fall habe die Politik eine bereits ausgezahlte Fördersumme an den Stifter zurücküberwiesen, obwohl das Projekt bereits angelaufen, eine studentische Hilfskraft engagiert worden sei. Für ihr Gehalt habe schließlich der Bezirk aufkommen müssen. „Das Geld fehlte dann woanders.“

Impfungen gegen Masern in einem Asylbewerberheim – auch sie verfügt ein Amtsarzt. Er kann Bestimmungen des Infektionsschutzgesetzes außer Kraft setzen. Wenn sie widersprüchlich erscheinen. Er kann die Personalpolitik mitbestimmen. Wenn zwei Arztstellen zu besetzen sind wie derzeit in eben jenem sozialpsychiatrischen Dienst, einer der wichtigsten Abteilungen des Gesundheitsamts, deren Leitung eine besondere Qualifikation und Erfahrung erfordert. Der Dienst vermittelt Hilfe in seelischen Krisen, berät Betroffene und Gerichte, überweist Patienten bei Bedarf in eine Einrichtung für psychisch Kranke.

Solche Vorgänge werden erfasst, Befunde gespeichert. Ebenso Daten von Patienten, die sich an den Amtsarzt gewandt haben, um eine zweite Meinung zu einer Diagnose einzuholen oder ein unabhängiges Gutachten zu erhalten. Diese personenbezogenen Informationen werden in digitalen Ordnern abgelegt, sogenannten Austauschlaufwerken. Auf einigen befindet sich im Neuköllner Gesundheitsamt auch Material über Beschäftigte. Die Daten sind unverschlüsselt, nur aus fachlichen Gründen involvierte Mitarbeiter dürfen daher darauf zugreifen, ein kleiner Kreis somit.

Ob Mirjam Blumenthal dazugehören sollte, darüber ist ein Streit entbrannt. Er ist Teil ihrer Auseinandersetzung mit dem Amtsarzt Savaskan. Die Berliner Datenschutzbeauftragte hat sich inzwischen eingeschaltet und prüft, ob mögliche Zugriffsrechte der Stadträtin mit dem Datenschutz vereinbar sind. Sie urteilt in einem ersten vertraulichen Schreiben an das Bezirksamt, das der Berliner Zeitung vorliegt: Ihre Behörde halte „eine generelle Zugriffsmöglichkeit auf personenbezogene Daten der Patient:innen und des Personals des Gesundheitsamts durch die Bezirksstadträt:innen zur Wahrnehmung ihrer gesetzlichen Aufgaben für nicht erforderlich und damit für datenschutzrechtlich äußerst bedenklich.“ Weiter heißt es: „Sofern Bezirksstadträt:innen kommissarisch als Amtsleitung des Gesundheitsamts fungieren, dürfte der Sachverhalt nicht anders zu bewerten sein.“

Abgeordneter: „Vorwurf des Datenmissbrauchs ist nicht aus der Welt“

Christopher Förster (CDU) kommt aus Neukölln, ist Mitglied des Abgeordnetenhauses. Dort hat er unlängst eine Anfrage an den Berliner Senat zu den Vorgängen eingebracht. „Der Vorwurf des Datenmissbrauchs ist noch nicht aus der Welt“, sagt Förster. „Die Antworten auf meine Anfrage erwecken eher den Eindruck, dass hier verschleppt und verschleiert werden soll. Transparente Aufklärung sieht anders aus.“

Der Senat hatte das Bezirksamt darum ersucht, zu 16 Punkten Stellung zu nehmen. Unter anderem lautete eine Auskunft, Hikel sei am 29. November des vorigen Jahres „über die erhobenen Vorwürfe hinsichtlich der Zugriffsrechte informiert worden“. Förster sagt: „Es bleibt ein Geschmäckle, dass nicht wahrheitsgemäß geantwortet wurde. Ich habe Informationen erhalten, dass es sich nicht so verhält, wie in den Antworten geschildert. Zum Beispiel, dass Bezirksbürgermeister Hikel früher, als er behauptet, Kenntnis von einem eventuellen Datenmissbrauch hatte. Also bereits vor dem 29.11.2022.“

Hikel selbst äußert sich auf Anfrage der Berliner Zeitung schriftlich. Er hält fest: „Es trifft zu, dass die Bezirksstadträtin technischen Zugriff auf die Laufwerke des Gesundheitsamtes hatte. Dieser Zugriff wurde durch das Gesundheitsamt eingerichtet, um der Bezirksstadträtin den Zugang zu verwaltungsinternen Akten zu ermöglichen.“ Weiter teilt Hikel mit: „Erst im Nachgang der technischen Einrichtung von Zugriffsrechten hat sich herausgestellt, dass keine Abstufung der Rechtevergabe auf den betroffenen Laufwerken erfolgte. Ein tatsächlicher Zugriff auf personenbezogene Daten erfolgte nicht.“ Die Zugriffsrechte seien mit Blumenthals Amtsantritt erteilt worden und nicht auf ihren kommissarischen Vertreter Hikel übergegangen.

Ein Mitarbeiter des Gesundheitsamts verweist darauf, dass in einigen der digitalen Ordner unter anderem sogenannte BEM-Gespräche protokolliert seien, Gespräche mit Beschäftigten des Amtes für ein „betriebliches Eingliederungs-Management“. Er sagt: „Der Kollege, der sich dazu entschließt, legt einen richtigen Seelen-Striptease hin. Bei Herrn Savaskan war das der Fall.“ Es bleibe bei Spekulationen, fährt er fort, „aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es nur darum geht, dass Dr. Savaskan nicht mehr zurückkehrt“.

In Neukölln soll künftig eine Doppelspitze das Gesundheitsamt leiten, ein Verwaltungschef dem Amtsarzt zur Seite gestellt werden. „Das Bezirksamt hat dazu am 27. September 2022 einen Beschluss gefasst“, teilt Hikel mit. Laut Informationen der Berliner Zeitung soll bereits nach einer möglichen Nachfolgelösung für Savaskan in einer solchen Konstellation gesucht werden.

Gesundheitsamt Neukölln: Das Klima wurde rauer

„Ein Amtsarzt widerspricht häufig“, sagt einer vom Fach, auch er äußert sich nur anonym. „Das Gesundheitsamt macht immer Ärger, es passt nicht hundertprozentig in die Verwaltung.“ Ein Veto bei medizinischen Bedenken, wie es Savaskan mit Blick auf das Management in der Corona-Pandemie formulierte? „Damit muss ein Vorgesetzter umgehen können.“ Eine allzu engagiert vorgetragene Forderung, zum Beispiel nach zusätzlichem Personal? „Das muss man zu moderieren wissen.“ Ein Stadtrat besitzt ein Weisungsrecht gegenüber einem Amtsarzt. Mirjam Blumenthals Vorgänger Falko Liecke (CDU) soll in den zwölf Jahren als Leiter des Gesundheitsressorts ein einziges Mal davon Gebrauch gemacht haben – gegenüber Savaskans Vorgänger.

Doch irgendwann muss das Binnenklima rauer geworden sein. In einem achtseitigen Schreiben vom 29. Juli 2022 jedenfalls, gezeichnet durch den stellvertretenden Neuköllner Bezirksbürgermeister Jochen Biedermann (Grüne), wurde Nicolai Savaskan untersagt, sein Amt weiter auszuüben. Er erhielt außerdem Hausverbot. Sein Auftreten, hieß es zur Begründung, sei von „zahlreichen Dienstkräften“ als „Druck- und Bedrohungssituation empfunden worden“. Außerdem habe er sich über Dienstanweisungen der Gesundheitsstadträtin hinweggesetzt. Etwa im März 2022, als er Blumenthals Weisung ignoriert habe, Medien-Interviews nur mit ihrer Erlaubnis zu geben.

Der Amtsarzt wiederum bezeichnete die Arbeitsatmosphäre als „toxisch“, sah den „Tatbestand des Bossings eindeutig erfüllt“, des Mobbings durch die Vorgesetzte. Insgesamt sechs Mitarbeiter hätten diesen Vorwurf erhoben, durch ihn schriftlich am 27. Juli niedergelegt. Mehrfach habe ihn die Stadträtin in dienstlichen Angelegenheiten übergangen. Savaskan berichtete von „geheimen Absprachen bei konspirativen Treffen“. In zwei ihm zugespielten internen Schreiben sei von einer Taskforce die Rede gewesen, die installiert werden sollte.

Der Abgeordnete Förster erkennt „einen beträchtlichen Schaden“, der durch den Konflikt entstanden sei, er sagt: „Das Gesundheitsamt ist noch immer ohne fachliche Leitung. Und mit der politisch gegen jeden fachlichen Rat durchgedrückten neuen Struktur wird auch kein Facharzt für den öffentlichen Gesundheitsdienst nach Neukölln kommen.“ Förster meint: „Es ist ein vollkommen unzumutbarer Zustand für einen Bezirk, der wahrlich anderes zu tun hat, als persönliche Fehden mit dem Disziplinarrecht auszufechten.“

Berliner Amtsärzte: „Zum Zuschauen verdammt“

Enttäuscht äußern sich Kollegen Savaskans. Zum Beispiel Reinickendorfs Amtsarzt. „Unabhängig davon, wie man den Fall an sich beurteilt“, sagt Patrick Larscheid: „Es ist ein Unding, dass ein Disziplinarverfahren, ohne das Herr Savaskan nicht als verbeamteter Amtsarzt abberufen werden kann, derart verschleppt wird.“ Ein Spiel auf Zeit seitens der Politik? Larscheid sagt: „Wie auch immer ein Verfahren nach Beamtenrecht ausgehen würde, ist doch für Herrn Savaskan schon jetzt ein beträchtlicher Imageschaden zu befürchten.“ Der Reinickendorfer stellt fest: „Wir, die übrigen Amtsärzte, sind zum Zuschauen verurteilt.“

Ein Zeichen setzen sie dennoch: Die Amtsärzte aller Berliner Bezirke treffen sich regelmäßig. „Die zwölf Apostel“ haben sie sich mal scherzhaft genannt. Im Moment sind sie zu elft, mangels Amtsarzt aus Neukölln. „An den Workshops nehmen wir nicht teil“, sagt einer aus der dortigen Verwaltung. Thema der Seminare unter anderen: Wie modernisiert man ein Gesundheitsamt.