Giffey beim Fastenbrechen im Roten Rathaus: „Miteinander reden macht uns stark“
Am Dienstagabend saßen Juden, Christen und Muslime mit der Bürgermeisterin zum Abendessen zusammen. Dabei kamen auch Probleme bei der Integration auf den Tisch.

Berlin-Genau 19.57 Uhr nimmt Cagatay Caliskan die Wasserflasche und gießt das Wasser ein. Gerade redet Staatssekretär Gerry Wood über die Fastenzeit und wie es dieses Ritual sowohl im Judentum, Christentum als auch im Islam gibt. Caliskan entscheidet sich für das Medium-Wasser und verteilt es auf mehrere Gläser, darunter für einen Christ, eine Jüdin und einen Atheisten. Dann schließt er die Augen und betet flüsternd, ganz kurz, mitten im großen Festsaal im Roten Rathaus. Um 19.58 Uhr, die Sonne war bereits 11 Minuten untergegangen, trinkt er den ersten Schluck Wasser an diesem Tag.
Seit vergangenem Sonnabend hat für Muslime weltweit der Ramadan begonnen. Es ist jener Monat im Jahr, in dem Muslime tagsüber nicht essen, trinken, rauchen, fluchen oder Sex haben dürfen. Sobald die Sonne untergeht, wird meist um so mehr gegessen und getrunken. In Berlin leben rund 300.000 Muslime, das sind rund 9 Prozent der Einwohner. Viele von ihnen fasten, und an diesem Abend sind rund 120 Gäste der Einladung der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) zu einem gemeinsamen Fastenbrechen gefolgt. Unter ihrem Vorgänger Michael Müller gab es ähnliche Veranstaltungen, doch wegen der Pandemie waren sie bis zuletzt ausgesetzt.
Umso mehr freue sich Giffey, sagt sie in einer kurzen Rede zu Beginn der Veranstaltung, dass man einander wieder begegnen könne. Es gehe um eine „Idee der Toleranz“ und ein „friedliches Miteinander“, das gerade jetzt in dieser Zeit des „furchtbaren Angriffskrieges“ wichtig sei. Abende wie dieser geben Kraft in schwierigen Zeiten. „Miteinander reden macht uns stark.“ Berlin habe immer zusammengestanden für Menschen, die in Not seien. „Wir müssen lernen, miteinander auszukommen.“ Im Programm steht vor dem Essen noch eine Schweigeminute.
Am Ende ihrer Rede verweist sie darauf, dass die Nachfolgenden sich kurzfassen sollen, schließlich hätten die meisten Zuhörer schon einen großen Hunger. Am Tisch von Cagatay Caliskan sitzt auch Tayyar Kocak vom Forum Dialog. Er lebt in Leipzig und ist für diesen Termin nach Berlin gekommen. „Ich faste jedes Jahr und trete außerdem in Leipzig auch für den Dialog zwischen den Religionen ein.“
Dialog zwischen den Religionen soll das Thema in diesem Jahr sein
Mitveranstalter ist in diesem Jahr eine Initiative, die zwar vor elf Jahren in Berlin gegründet wurde, aber noch kein Zuhause hat: das House of One. Dieses Friedensprojekt soll für mehr Verständnis zwischen den Religionen sorgen. Christen, Juden und Muslime engagieren sich gemeinsam, bauen sogar ein Gebetshaus für alle, inklusive einem vierten Raum für alle anderen Religionen. Nicht weit vom Roten Rathaus, ein paar Hundert Meter in Richtung Humboldt-Forum soll das neue Haus bis 2027 fertig gebaut sein. Eine Miniatur davon steht im Büro der Regierenden.
Cagatay Caliskan gehört der dritten Generation Einwanderer an. Seine Frau trägt Kopftuch. „Das ist hier in Berlin kein Problem“, sagt er, „aber vorher habe ich in Nauen gearbeitet und dort fühlte ich mich irgendwann mit meiner Familie nicht mehr wohl.“ Es begann beim Spitznamen als „Dönerlehrer“ und endete bei Eltern, die in Gesprächen immer wieder deutlich machten, dass sie ihn nicht respektieren. Jetzt sei er seit fünf Jahren in Berlin — obwohl er dafür seine Verbeamtung in Brandenburg zurückließ. Man kann eine Weile Held spielen, sagt er, und spricht dann noch von einer Kollegin, die in Oranienburg im Kopftuch zur Schule gegangen sei. „Sie hat ein Jahr durchgehalten und ist jetzt in Westdeutschland.“
Nach Franziska Giffey spricht noch Ayden Özoguz (SPD), Vizepräsidentin des Bundestags. Auch sie fordert Einverständnis und Respekt ein – für andere Weltanschauungen und Religionen. „Jeder soll das leben dürfen.“ Dann spricht sie die geflüchteten Menschen aus der Ukraine an. „Wir brauchen noch viel Geduld“, sagt sie. „Es werden noch viel mehr Menschen unsere Hilfe brauchen in den kommenden Monaten.“
Nach insgesamt zehn Reden und einer Schweigeminute wird das Essen rund 15 Minuten nach dem Zeitplan an die Tische gebracht: als Vorspeise Baba Ganoush, Hummus, eine Rote-Paprika-Creme sowie viele Oliven; als Hauptgang gibt es kurz darauf ein vegetarisches Auberginen-Gericht mit extra gereichtem Lachs; als Nachspeise Apfelstrudel. Zwei Muslime am Tisch stehen auf und gehen zum Rauchen oder zum Beten hinaus.
In der Zeit spricht Mirja O., ebenfalls Lehrerin, von ihren Erfahrungen. Auch sie hat an ihrer Charlottenburger Schule erlebt, dass Frauen abgelehnt werden, weil sie ein Kopftuch trugen. Auch sie hat mit Schülern gesprochen, die Juden nicht respektieren und sich lautstark mit Lehrern über Religionsfragen streiten. In einer Stunde war der Streit so erbittert, dass der Unterricht abgebrochen werden musste. Ein Kamerateam von Arte war dabei. Die eskalierte Unterrichtsstunde wurde nie ausgestrahlt, sie passte nicht ins Konzept der Redaktion.
Cagatay Caliskan kennt auch solche Geschichten – auch in Bezug auf das Fasten. „In Nauen gab es eine Schulleiterin, die meinte, dass mein Fasten ein falsches Beispiel für die Kinder sei.“ Die Schulleiterin habe Kette geraucht. Alkohol wurde an dem Abend im Roten Rathaus nicht gereicht. Es ist schließlich auch noch Fastenzeit für Christen.