Demo gegen Putin: „Wenn 500.000 Menschen den Atem anhalten“

Der Aufzug auf der Straße des 17. Juni wurde eine der größten Kundgebungen der vergangenen Jahre.

Wollen Flagge gegen den Krieg zeigen: Yvonne und Matthias Kunz (v.l.) aus Berlin mit ihrer Tochter Helene  sowie Christian und Dörte Groß (v.r.) aus Fürstenberg mit ihrer Tochter Alma (M.) und den Zwillingen Ellen und Friederike.
Wollen Flagge gegen den Krieg zeigen: Yvonne und Matthias Kunz (v.l.) aus Berlin mit ihrer Tochter Helene sowie Christian und Dörte Groß (v.r.) aus Fürstenberg mit ihrer Tochter Alma (M.) und den Zwillingen Ellen und Friederike.Benjamin Pritzkuleit

Stille. Um 14.09 Uhr halten die Menschen auf der Straße des 17. Juni inne. Niemand telefoniert zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor, niemand redet mit seinem Nachbarn. Es ist eine Schweigeminute für die Opfer des Krieges gegen die Ukraine, eine Schweigeminute für den Frieden. „Es ist beeindruckend, wenn 500.000 Menschen den Atem anhalten“, ist dann die Rednerin aus den Lautsprechern zu hören. Der Applaus der Demonstranten schwillt an, hallt vieltausendfach durch den Tiergarten. Lange hat Berlin nicht mehr solch eine Demonstration Hunderttausender erlebt. Die Polizei schätzt die Teilnehmerzahl im unteren sechsstelligen Bereich. Angemeldet waren 20.000.

Schilder sind zu sehen: „Stoppt Putin“, „Solidarität mit der Ukraine“, „Russians stand with Ukraine“ oder „Entwaffnet die Männer“ ist darauf zu lesen. Überall werden blau-gelbe Fahnen geschwenkt, die Flagge der Ukraine. Das russische Ehrenmal ist mit Gittern abgesperrt, an dem sich die Menschen dichtgedrängt vorbeischieben. Die allermeisten tragen einen Mund-Nasen-Schutz, nicht wenige in den ukrainischen Farben.

Vor dem Gitter stehen Julia Felker und ihr Ehemann Bernd. Gut sichtbar für den Strom der Protestler hält die 48-Jährige ein DIN-A4-großes Papier hoch. Darauf steht: „It’s your war, Putin, not of the Russian People“. Julia Felker ist Russin, sie stammt aus St. Petersburg, seit 16 Jahren lebt sie bei ihrem Mann in Berlin.

Julia Felker sagt, Putins Krieg ist nicht ihr Krieg. Sie habe sich noch nie so sehr geschämt, Russin zu sein.
Julia Felker sagt, Putins Krieg ist nicht ihr Krieg. Sie habe sich noch nie so sehr geschämt, Russin zu sein.Benjamin Pritzkuleit

Felker hat eine klare Meinung zum Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine. „Das ist Putin, das ist nicht das russische Volk“, erklärt sie. Sie habe sich geschämt, zum ersten Mal in ihrem Leben. Julia Felker hat Freunde und Verwandte in der Ukraine, jeden Tag telefoniert sie mit ihnen. „Wir weinen gemeinsam, es ist so furchtbar“, sagt sie.

Maryana ist 22, sie hat eine ukrainische Flagge um ihre Schulter gebunden, hält ihr Handy in die Höhe, um die vielen Menschen zu filmen – auch Julia Felker. Maryana stammt aus der Ukraine, hat ihren Freund bei einem Kurztrip nach Berlin kennengelernt. „Ich schicke das Video in meine Heimat, an meine Schwester und die Eltern, die noch immer in Kiew ausharren. Sie sollen sehen, dass es Menschen gibt, die zu ihnen stehen“, sagt sie.  Sie nennt den Krieg Wahnsinn, ein Verbrechen. „Diese vielen Leute aber, die uns beistehen, sind echte Freunde. Sie machen Mut.“ Berlin sei großartig.

Ein Bündnis aus Initiativen, Umweltschutzorganisationen, Gewerkschaften, Kirchen und Friedensgruppen hatte zu der Demonstration unter dem Motto „Stoppt den Krieg! Frieden für die Ukraine und ganz Europa“ aufgerufen und 20.000 Teilnehmer angemeldet. Putin habe einen Krieg angezettelt, er überschreite Grenzen und verletze in dramatischer Weise das Völkerrecht, heißt es in dem Aufruf, dem an diesem Sonntag die vielen Menschen gefolgt sind. „Wir sind von der Teilnehmerzahl überwältigt“, sagt Nora Neye vom Deutschen Gewerkschaftsbund.

Eva (r.) ist Ärztin, und demonstriert mit ihren Freundinnen aus Litauen gegen Putins Krieg.
Eva (r.) ist Ärztin, und demonstriert mit ihren Freundinnen aus Litauen gegen Putins Krieg.Benjamin Pritzkuleit

Eva ist Ärztin und 28 Jahre alt. Sie ist Litauerin. Mit ihren Freundinnen ist sie zu der Demo gekommen. Sie habe nicht viel überlegen müssen, sagt sie. „Wir leben im 21. Jahrhundert, und ein Krieg in Europa schien undenkbar.“ Es sei wichtig, Putin zu zeigen, dass die Menschen in Europa frei und demokratisch leben wollen. Nach den Einmarsch Russlands in der Ukraine herrsche in Litauen aber auch in den anderen baltischen Staaten Angst, dass der Krieg auch zu ihnen komme.

„Fuck Putin“, steht auf dem Plakat, dass Philipp Tannhäuser stumm hochhält. Der 36-Jährige ist IT-Architekt aus Berlin. Zu seiner Teilnahme an der Protestkundgebung sagt er, die Welt müsse Putin zeigen, dass es so nicht gehe. Er habe keine Beziehungen in die Ukraine, aber er fühle sich den Menschen dort sehr verbunden. „Es ist mir kalt den Rücken runtergelaufen, als es hieß, Ukrainer zwischen 18 und 60 dürfen ihr Land nicht mehr verlassen, weil sie kämpfen müssen“, erzählt der 36-Jährige. Er habe Angst gehabt vor dem, was kommen könnte. Es sei jedoch ein gutes Gefühl, wenn er nun sehe, dass überall in der Welt so viele Menschen gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße gehen. „Die Welt ist zusammengerückt, und diese Demonstration hier in Berlin ist ein ganz starkes Zeichen.“

Philipp Tannhäuser hat Angst vor einem Krieg in Europa.
Philipp Tannhäuser hat Angst vor einem Krieg in Europa.Benjamin Pritzkuleit

Für den Frieden laufen auch Dörte und Christian Groß und ihre drei Kinder aus dem brandenburgischen Fürstenberg mit. Sie haben selbst gebastelte Plakate dabei. „Man hat das Gefühl, als Nichtpolitiker nicht viel machen zu können. Deswegen zeigen wir Flagge“, sagt der 46-jährige Familienvater. Auch seine Kinder, die zehnjährige Alma, und die sechsjährigen Zwillinge Ellen und Friederike, hätten schon realisiert, was der Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine bedeute. „Es war unvorstellbar, dass der Krieg real wird“, sagt Alma, die in die fünfte Klasse geht. Sie hat seit vergangenen Jahr einen Jungen in der Klasse, der aus der Ukraine kommt.

Die Polizei bittet indes die vom Brandenburger Tor immer noch nachströmenden Menschen, nicht weiter in Richtung Siegessäule zu laufen, wo die Kundgebung stattfindet. Der Zug bewegt sich kaum noch. Dann kommt die Durchsage, dass der zwölfjährige Jamie vermisst werde. Der Junge habe ein Plakat dabei, sagt der Polizeibeamte. Donnernder Applaus ertönt, als er beschreibt, was auf dem Plakat steht: „Ich hasse Putin.“ Kurz darauf ist der Junge wieder da.

Noch mehr als eine Stunde kommen noch immer neue Demonstranten auf die Straße des 17. Juni. Familien sind darunter, Senioren und junge Menschen. Ein älterer Herr zeigt auf sein Schild, auf dem steht: „Jeder Krieg ist unmenschlich.“ Mit dem Plakat habe er schon vor 19 Jahren gegen den Krieg im Irak demonstriert, sagt er. Damals habe er gegen den amerikanischen Präsidenten protestiert, heute sei es der russische Präsident.