Gutachter zu tödlicher Amokfahrt vom Kudamm: Gor H. trat Gaspedal voll durch

Der offenbar psychisch kranke Beschuldigte schweigt zu Prozessbeginn in Berlin. Er soll absichtlich in eine Schulklasse gerast sein. Eine Lehrerin starb.

Ende einer Amokfahrt: Nach 285 Metern krachte der Kleinwagen von Gor H. in ein Schaufenster.
Ende einer Amokfahrt: Nach 285 Metern krachte der Kleinwagen von Gor H. in ein Schaufenster.Pressefoto Wagner

Das Video, das an diesem Dienstag im Schwurgerichtssaal des Moabiter Kriminalgerichts gezeigt wird, ist acht Minuten und 47 Sekunden lang. Die Polizei hat es aus den Filmsequenzen von Überwachungskameras aus Läden am Kurfürstendamm und der Tauentzienstraße zusammengestellt. Der Unfallgutachter Dietmar Severin zeigt einen Film, der die Zuschauer im Saal zurückführt zum 8. Juni des vorigen Jahres. Es ist eine bedrückende Rückschau.

Der 8. Juni war ein schöner warmer Vorsommertag, der viele Menschen auf die Flaniermeile in Charlottenburg gelockt hatte. Auch die 24 Schüler der 10 B der Kaulbachschule aus dem hessischen Bad Arolsen. Am Vortag war die Klasse in Berlin eingetroffen – es sollte ihre Abschlussfahrt werden, ein unvergessliches Erlebnis. Am Kudamm wollten die 15 und 16 Jahre alten Mädchen und Jungen shoppen gehen. Ihre Klassenlehrerin Tanja H. und ein weiterer Pädagoge begleiteten die Jugendlichen.

Kurz ist die Gruppe in dem Video zu sehen. Vier Sekunden später kommt auch schon ein silberfarbener Renault Clio angerast, der auf den Gehweg und dann ungebremst in die Klasse fährt. Der Fahrer verringert die Geschwindigkeit nicht, als sein Kleinwagen auf Menschen trifft, die auf die Motorhaube geschleudert werden.

Dietmar Severin ist Sachverständiger in diesem Prozess um die Amokfahrt, bei der die 51-jährige Lehrerin Tanja H. starb und 16 weitere Menschen – darunter viele Schüler, der Kollege von Tanja H. und eine schwangere Frau – zum Teil lebensgefährlich verletzt wurden. Das Tatgeschehen hat sich laut Severin auf einer Länge von 285 Metern zugetragen.

Der mutmaßliche Fahrer des Renaults sitzt an diesem ersten Verhandlungstag auf der Anklagebank, ohne Angeklagter zu sein. Gor H. ist Beschuldigter, weil er vermutlich schuldunfähig ist. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm einen Heimtückemord und sechzehnfachen versuchten Mord vor.

Silke van Sweringen vertritt in dem Verfahren die Staatsanwaltschaft. Dietmar Severin ist Gutachter.
Silke van Sweringen vertritt in dem Verfahren die Staatsanwaltschaft. Dietmar Severin ist Gutachter.Pressefoto Wagner

Der 29-Jährige sei absichtlich auf den Gehweg gefahren, um die dort laufenden Passanten zu verletzen, erklärte Staatsanwältin Silke van Sweringen zu Prozessbeginn. Gor H. habe gewusst, dass sich die Menschen keines Angriffs versahen. „Wobei er auch tödliche Verletzungen für möglich hielt und verursachen wollte“, so van Sweringen.

Nach ihren Worten leidet der Beschuldigte seit 2014 an einer paranoiden Schizophrenie und befand sich zum Tatzeitpunkt in „einem akut psychotischen Zustand“. Nicht auszuschließen sei, dass die Steuerungsfähigkeit von Gor H. aufgehoben gewesen sei. Deswegen strebe die Staatsanwaltschaft die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Gor H., so wird es van Sweringen später sagen, habe schon einige Zeit vor der Tat die Tabletten, die er wegen seiner psychischen Erkrankung habe nehmen müssen, abgesetzt.

Gor H. ist ein untersetzter Mann mit Glatze, der mal interessiert auf das Video schaut, dann scheinbar kurz vor dem Wegdämmern ist. Er ist in Armenien geboren, im Alter von zwölf Jahren mit seiner Mutter und seiner Schwester nach Berlin gekommen. Er hat die deutsche Staatsbürgerschaft.

Eine Berufsausbildung habe er abgebrochen, antwortete er auf die Frage des Gerichts nach seinem Beruf. Er lebt von Hartz IV. Seit mehreren Jahren schon steht der in Charlottenburg-Nord wohnende Mann unter Betreuung. Seit seiner Festnahme ist er in der Klinik des Maßregelvollzugs untergebracht.

Am Tattag soll sich Gor H. den Renault Clio seiner Schwester genommen haben. Er kann ein Auto lenken, hat seit rund zehn Jahren eine Fahrerlaubnis. Gegen 10.30 Uhr befuhr er mit dem Wagen den Kurfürstendamm in Richtung Tauentzienstraße. In Höhe der Hausnummer 236 lenkte er das Fahrzeug laut Antragsschrift auf den Gehweg.

Wie der Sachverständige Severin erklärt, sei der Wagen des Beschuldigten dabei 45 Kilometer pro Stunde schnell gewesen. Dann habe Gor H. das Fahrzeug stark beschleunigt, „das Gaspedal voll durchgetreten“. „Der Motor hat aufgeheult, das haben viele Zeugen gehört“, sagt der 57-jährige Gutachter.

Gor H. wird am 8. Juni zu einem Gefangenentransporter gebracht.
Gor H. wird am 8. Juni zu einem Gefangenentransporter gebracht.Pressefoto Wagner

Mit mehr als Tempo 50 traf der Clio auf die Schülergruppe. Menschen wurden auf die Kühlerhaube schleudert und dann seitlich abgeworfen. Tanja H. riss der Wagen laut Severin 15 bis 20 Meter mit, dann fiel sie vermutlich wegen einer kurzzeitigen Verringerung der Geschwindigkeit vor das Auto und wurde überrollt. Sie starb noch an der Unfallstelle.

Laut Severin fuhr Gor H. dann das Fahrzeug wieder zurück auf die Straße und an der Marburger Straße mit 56 Stundenkilometern erneut auf den Fußweg. Dort riss der Wagen drei weitere Menschen mit, bevor er in das Schaufenster einer Parfümerie krachte. Auf dem Video ist zu sehen, wie Gor H. versucht, zu Fuß zu fliehen. Doch Passanten überwältigen ihn und halten ihn fest – bis die Polizei eintrifft.

Der Wagen habe vor dem Crash keine technischen Mängel gehabt. „Der Beschuldigte hätte also jederzeit auf die Bremse treten können“, sagt der Sachverständige. So hätte Gor H. auch den Aufprall auf die Schulklasse verhindern können. Vom Auf-den-Gehweg-Fahren bis zu den Schülern seien es 30 Meter gewesen, erklärt Severin. Eine ausreichende Strecke, um den Clio vor der Klasse zum Stehen zu bringen. Der Gutachter schließt ein unabsichtliches Unfallgeschehen aus.

Gor H. schweigt zu alledem. Sein Mandant werde sich zunächst nicht äußern, so Verteidiger Mark Höfler. „Wir sind uns in der Bewertung einig, dass mein Mandant schon seit Jahren schwer psychisch erkrankt ist und dass er schuldunfähig gehandelt hat“, sagt er in einer Prozesspause. Es werde also kein streitiges Verfahren geben. Sein Mandant könne nicht sagen, was am Tattag in ihm vorgegangen sei, so Höfler. Gor H. habe keinen Zugang zum Geschehen, keine Erinnerung. Aber das, was passiert ist, tue seinem Mandanten und auch seiner Familie sehr leid.

Insgesamt zwölf Verhandlungstage hat die Kammer für das Verfahren terminiert, in dem elf Betroffene Nebenkläger sind. Thomas Groß, der Vorsitzende Richter, sagt, er wolle verhindern, dass die Jugendlichen der betroffenen Klasse im Prozess als Zeugen aussagen müssen – „mit dem Ziel der Schonung“. Stattdessen sollen im Verfahren die Protokolle der Vernehmungen und die rechtsmedizinischen Gutachten über die Verletzungen verlesen werden.

Lediglich der Kollege der bei der Amokfahrt getöteten Lehrerin Tanja H., der lebensgefährliche Verletzungen davongetragen hatte, soll als Zeuge gehört werden – am nächsten Verhandlungstag.