Manchmal möchte man sich vor Corona in einer Waldhütte verstecken

Der Wald am Stadtrand ist in der Corona-Zeit zum Refugium für viele Berliner geworden. Der Autor entdeckt unter anderem eine rege Bautätigkeit. Außerdem erinnern noch viele Spuren an das Kriegsende.

Der Autor in einer der vielen wilden Behausungen, die in seinem Wald entstanden sind.
Der Autor in einer der vielen wilden Behausungen, die in seinem Wald entstanden sind.Foto: Harmsen

Der Wald, an dem wir wohnen, hat sich verändert. Überall stehen Behausungen, die an Tipis und Wigwams von Indianern erinnern. Sie entstanden aus herbeigeschleppten Ästen aller Art, die an Bäume gelehnt wurden. Ich habe etwa zehn davon gezählt. Sie sind das Ergebnis der Kombination von Schulschließungen und abgesperrten Spielplätzen in den vergangenen Wochen. Irgendwas musste man ja mit den Kinderlein machen, bevor sie einem in der Bude durchdrehen.

Eine Art Hütte ist sogar in einem der vielen alten Bombentrichter entstanden, die noch immer im Wald zu finden sind, vor allem nahe der Bahn. Überbleibsel des Krieges. Ich staune immer wieder, wie groß sie sind und wie dicht sie beieinanderliegen. Wie diese Trichter bei Bombenangriffen vor 75 Jahren entstanden sind, kann ich heute im Tagebuch meiner Oma nachlesen. Sie wohnte in Rahnsdorf auf den Püttbergen. Die riesigen britischen und amerikanischen Bomberverbände flogen direkt über sie hinweg. Es dröhnte und vibrierte, dass das Häuschen wackelte, in dem sie wohnte.

Anzeige | Zum Weiterlesen scrollen

3. Februar 1945: „Ich habe über uns etwa 750 Flugzeuge gezählt. Bomben sind in der Innenstadt gefallen. Bis Ostkreuz brennt alles. Der Himmel ist schwarz. Über Berlin liegt ein roter Feuerschein.“ - 27. Februar 1945: „Es war ein Strom von Bombern. Mehrere Häuser total abgebrannt. Riesentrichter hier im Wald und an der Bahn.“ – 1. März 1945: „Wieder viele Abwürfe, auch in der Stadt und Ostbahn. Immer soll die Bahn getroffen werden.“ – 2. März 1945: „Früh schon wieder Alarm. Bomberverbände, es wird also wieder schlimm, ich zittere am ganzen Körper.“

Heute sind die Trichter überwachsen, aber noch immer riesig. Manche sind versandet. Kinder haben Äste zusammengetragen und einen kleinen Unterstand gebaut. Meine Frau und ich laufen Slalom und schauen, was alles so im dichten Unterholz wächst. Sie ist eine Biologentochter und nennt mir die Namen der violett, weiß, gelb und blau blühenden Pflanzen: Immergrün, Dolden-Milchstern, Zypressen-Wolfsmilch und Gundermann. Den singenden Gundermann kannte ich schon, den blühenden noch nicht.

Die Zeit im Wald ist die, in der ich nicht an die „größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ denke, wie es Angela Merkel nannte. Ich vergesse die Coronaviren, die Pandemie, die Reproduktionszahlen, die Antikörpertests, die Masken, die Verschwörungstheoretiker und den Lockerungsstreit. Manchmal würde ich gern im Wald bleiben und mich in einer der Hütten einrichten. Am besten für immer.