Niemals beschweren! Was man als alter Preuße in England lernen kann

Das Wetter ignorieren, freundlich sein, sich nicht über Kleinigkeiten aufregen – ein Aufenthalt in Südengland entspannt den Berliner ungemein. Eine Kolumne.

Fassade in Brighton mit Popstars. Auch die „Kissing Coppers“ von Banksy sind mit dabei – rechts unten.
Fassade in Brighton mit Popstars. Auch die „Kissing Coppers“ von Banksy sind mit dabei – rechts unten.Torsten Harmsen/Berliner Zeitung

Ich wusste gar nicht, dass in Südengland Palmen wachsen, und zwar in Parks und Gärten – ganz normal, nicht in Töpfen. Erfahren habe ich das auf einer Reise nach Brighton, wo meine Tochter studiert. Hoffentlich hält der Golfstrom noch ’ne Weile. Sonst war’s das mit den Palmen.

Eine Reise ist nicht nur die Gelegenheit, Neues zu entdecken. Sie ist auch wie ein Spiegel, den man sich selbst vorhält. Ich habe zum Beispiel erkannt, was für ein unfreier, tumber Preuße ich bin, was meine Neigung betrifft, mich dem Wetter entsprechend zu kleiden.

In Brighton läuft man herum, wie man gerade will. Wenn der eisige Wind über den Ärmelkanal pfeift, kalter Nieselregen sprüht, laufen Leute mit nackten Schultern, kurzen Hosen und Röcken umher. Bleiche, tätowierte Beine – das sieht man hier quer über alle sechzig Geschlechter. Denn die Studentenstadt Brighton ist zugleich auch „the LGBTQ Capital of the UK“, wie man stolz verkündet.

Kälte, Nieselregen? Da ziehe ich extra kurze Hosen an!

Als Preuße in praktischer Allwetterkleidung, mit Pickelhaube als Blitzableiter, bibbert man schon vom Zusehen. Und schämt sich seiner Unfreiheit. Denn der Brite wolle mit seiner Kleidung zeigen, wie unabhängig er „von Mode, Wetter, sozialen Konventionen und Farbtheorien“ sei, las ich in einem Büchlein, das ich vor Ort entdeckte. Wetter? Das ist nur eine Empfehlung. 

Was lernt man noch als brubbelnder reisender Berliner? Man lernt, was Freundlichkeit anrichten kann. In jedem Café, jedem Restaurant wird man freundlich behandelt. Kellner lächeln einen an, sind stets zu einem kleinen Gespräch bereit. Und ehe man noch blaffen will: „Wat’n los, haste nischt zu tun?“, bemerkt man: Auch untereinander – hinter der Theke – herrscht Freundlichkeit. Mit Scherzen und guter Laune.

Dauer-Muffeligkeit mit Neigung zum „Uffrejen“ – das ist hier selten

Und das steckt an. Plötzlich rutscht es einem selbst auf die Zunge, während man so durch den Alltag inmitten der bunten, bemalten Häuser mit ihren vielen Pubs und Läden schlendert: „please“ und „sorry“, „thank you“, „allow me“, „after you“ und „my fault“. Zumindest möchte man es sagen. Es holpert nur immer ein bisschen spät heraus. Man ist ja auch gar nicht dran gewöhnt. In Berlin würde man ja niemals auf die Idee kommen.

Nach der Rückkehr vermisste ich es erst ein bisschen. Dann pegelte sich die Stimmung wieder ein: auf wohltemperierte Muffeligkeit mit der Neigung, sich schnell mal „uffzurejen“. In Brighton sollte man so etwas nie tun. „Never complain“, heißt ein Grundsatz. Niemals beschweren! 

Abgeschnittenes Ohr und kalte Suppe – einfach ignorieren

Man sollte lernen, „not to make a fuss“. Also: kein Aufheben zu machen. Was wohl nicht nur zufällig so klingt, wie „kein Fass aufmachen“. Der wahre Brite beschwere sich nicht, heißt es, um sich und anderen das Leben nicht schwer zu machen.

Aber wie passt das damit zusammen, dass man sich einst lauthals darüber beschwerte, wie sehr man von der EU geschurigelt werde – und dringend rauswollte? Siehe Brexit! Aber vielleicht wollten all die Freundlichen in Brighton ja gar nicht raus. Oder „not to make a fuss“ funktioniert nur im Kleinen.

„Wenn die Rezeptionistin Sie ignoriert, der Friseur Ihnen ein Stück Ohr abschneidet, die Suppe kalt ist oder der Taxifahrer zu viel verlangt – sagen Sie nichts! Wer weiß, welche Enttäuschungen, welche heimliche Traurigkeit ihr Leben enthalten mag“, heißt es in dem entdeckten Büchlein. Niemals schimpfen und meckern! Hinterher könne man ja immer noch an die Lokalzeitung schreiben. Den ersten Teil werden die Berliner wohl niemals hinkriegen, den zweiten auf alle Fälle.