Ostdeutsche Identität: „Wir haben uns oft zu schnell von Dingen aus der DDR getrennt“

Hartmut Dorgerloh, Intendant des Humboldt-Forums, sagt: Herkunft verbindet die Ostdeutschen. Trotzdem hat er seine manchmal verborgen.

Hartmut Dorgerloh ist Generalintendant des Humboldt-Forums, wo er ein großes Projekt zum Palast der Republik vorbereitet, auch mit Blick auf die Frage: Ist der Osten eine Herkunftsgesellschaft?
Hartmut Dorgerloh ist Generalintendant des Humboldt-Forums, wo er ein großes Projekt zum Palast der Republik vorbereitet, auch mit Blick auf die Frage: Ist der Osten eine Herkunftsgesellschaft?Markus Wächter/Berliner Zeitung

Das Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann, Literaturprofessor aus Leipzig, ist sofort nach seinem Erscheinen zum Bestseller geworden. Und eröffnet eine neue Debatte über ostdeutsche Identität. Gibt es sie überhaupt? Was macht sie aus? Verbergen Menschen, dass sie aus dem Osten kommen? Sind sie stolz darauf? Die Berliner Zeitung lässt Menschen mit Ost-Biografie zu Wort kommen. Wollen auch Sie von Ihrer Erfahrung berichten? Wir freuen uns über Zuschriften an leserbriefe@berliner-zeitung.de

Gestern Abend habe ich meinem Mann, der aus dem Westen kommt, von der Anfrage der Berliner Zeitung erzählt. Wir haben zweieinhalb Stunden darüber geredet und waren hinterher erstaunt, dass es immer noch so viel Diskussionsstoff gibt. All die Fragen: Ist der Westen die Norm? Und wenn ja, was heißt das eigentlich? Und war der Regierungsumzug von Bonn nach Berlin wirklich das Einzige, was sich für die Westdeutschen verändert hat?

Hier im Humboldt-Forum bereiten wir gerade für das nächste Jahr ein großes Projekt zum Palast der Republik vor, mit Blick auf das kollektive Gedächtnis und auch auf die Frage: Ist der Osten eine Herkunftsgesellschaft? Ich würde diese Frage mit ja beantworten. Ich glaube, ihre Herkunft verbindet die Ostdeutschen, auch wenn diese Herkunft extrem divers gewesen ist. Ich zum Beispiel komme aus einem Pastorenhaushalt, war gegen den Willen meiner Eltern in der FDJ und 18 Monate bei der NVA, weil ich studieren wollte. Meine Immatrikulation fand im Großen Saal des Palastes der Republik statt. Gelbe Polster, blaue Hemden. Nur eine versprengte Truppe trug kein Blauhemd, das waren wir, die Kunst- oder Theaterwissenschaften oder Theologie studierten.

Wenn ich im „Ostblock“, auch so eine Zuschreibung, unterwegs war, habe ich mich bemüht, kein DDR-Bürger zu sein. In Ungarn zum Beispiel habe ich keine Jesuslatschen getragen, weil man daran sofort erkannt wurde. Wenn jemand fragte, woher ich komme, sagte ich: aus Berlin, was auch heißen konnte: West-Berlin. Ich hatte das Gefühl, den falschen Ausweis und das falsche Geld zu haben und verständigte mich eher auf Englisch statt auf Russisch.

Hartmut Dorgerloh glaubt, dass die Ungerechtigkeiten, die viele Ostdeutsche erfahren mussten, nicht mehr repariert werden können, aber die Verletzungen müssen bewusster wahrgenommen werden. 
Hartmut Dorgerloh glaubt, dass die Ungerechtigkeiten, die viele Ostdeutsche erfahren mussten, nicht mehr repariert werden können, aber die Verletzungen müssen bewusster wahrgenommen werden. Markus Wächter/Berliner Zeitung

Gedient? Ja, aber in der NVA

Nach 1990 habe ich meine Herkunft nicht offensiv nach außen getragen, aber klar adressiert, habe gesagt: Ich komme aus Potsdam. Ich war ja in der Landesregierung in Brandenburg tätig, das Partnerland war NRW, und von den Westbeamten wurde das teilweise übersetzt mit: Nun Regieren Wir. Und da war es wichtig zu sagen: Nein, es  gibt hier schon ein paar Leute, die aus dem Osten sind und schon mal in Neuruppin oder Finsterwalde waren.

Ich war Ende 20 und froh, dass ich als Referatsleiter im Kultur- und Wissenschaftsministerium akzeptiert wurde. Ich hatte ja keine Ahnung von der Sozialpflichtigkeit des Eigentums, Steuerabzugsberechtigungen und solchen Sachen, die auch in der Denkmalpflege wichtig sind. Ich habe extrem viel schnell dazulernen müssen, und klar habe ich irgendwann so getan, als hätte ich das alles schon immer gewusst. Dadurch ist sicher manchmal der Eindruck entstanden, ich käme aus dem Westen.

Ich erinnere mich an einen Termin mit dem damaligen Innenminister Jörg Schönbohm, der machte so eine Bemerkung wie: „Wahrscheinlich hat ja hier keiner gedient.“ Und ich habe gesagt: „Doch, hab ich, aber in der NVA.“ Er guckte mich groß an, weil er damit gerechnet hatte, dass auf der Leitungsebene alle aus dem Westen kommen. Sowas hat mir mitunter sogar Spaß gemacht: zu sehen, wie Leute überlegt haben: Hab ich grad irgendwas Schlimmes über die Ossis gesagt?

Bei Gesprächen mit Denkmaleigentümern hat es oft geholfen zu signalisieren, dass ich auch aus dem Osten komme. Das hat Brücken gebaut, die andere nicht bauen konnten. Manchmal habe ich es verschwiegen, ganz bewusst, damit mein Gegenüber nicht merkt, woher ich komme. Adressatenbezogenes Kommunizieren – das lernte man übrigens schon früh in der DDR.

Der Palast der Republik in den 1990ern. Hier, im Großen Saal, fand Hartmut Dorgerlohs Immatrikulation statt.
Der Palast der Republik in den 1990ern. Hier, im Großen Saal, fand Hartmut Dorgerlohs Immatrikulation statt.imagebroker/imago

Über den Palast der Republik würde heute anders diskutiert

Ist es heute zu spät, über die Probleme und Ungerechtigkeiten zu sprechen, die viele Ostdeutsche erfahren mussten? Ich glaube, man kann da nichts mehr reparieren, wir müssen aber die Verletzungen bewusster wahrnehmen. Und mit Blick auf Mittel- und Osteuropa fragen: Was ist dort eigentlich passiert, in Polen oder der Tschechoslowakei? Die hatten keinen reichen Bruder aus dem Westen, es gab keinen so radikalen Elitenaustausch, und in Warschau steht noch der ungeliebte Kulturpalast aus Stalins Zeiten, hier der Palast der Republik aber nicht mehr.

Wir haben uns oft zu schnell von Dingen aus der DDR getrennt. Die Entscheidung gegen den Palast wurde zwar mehrheitlich getroffen, in einem demokratischen Verfahren, es würde heute aber sicher anders diskutiert werden. Es braucht eben einen gewissen zeitlichen Abstand zur vorherigen Generation und auch zu einem untergegangenen politischen System, um beurteilen zu können, was Bauten als historisches Dokument wert sind. Was erhalten blieb und was nicht, hing oft davon ab, ob Ostdeutsche maßgeblich darüber mitentscheiden konnten, was von dem von ihnen gekippten Staat weggeworfen wird.

Jetzt erleben wir ein Revival durch eine Generation, die die DDR gar nicht mehr erlebt hat, die sogenannte Ostmoderne. Und ich bin froh über das Museum für DDR-Alltagskultur in Eisenhüttenstadt, das Kunstarchiv Beeskow für Werke aus der DDR oder das Schloss Schönhausen in Pankow, wo wir all die verschiedenen Epochen, von preußischen Königinnen bis zu Honecker, erhalten haben. So kann man auch mit unserem gesamtdeutschen Erbe umgehen.

Hartmut Dorgerloh, geboren 1962 in Ost-Berlin, ist Generalintendant des Humboldt-Forums in Berlin. 

Aufgezeichnet von Anja Reich