Hauptstadt der Obdachlosen: 20.000 Berliner haben keine feste Bleibe

Berlin - Wenige Tage vor der Bundestagswahl machen Kirchenvertreter auf die sich verschärfende Situation der Wohnungslosen in Deutschland aufmerksam. Sie fordern, dass sich die Bundesregierung und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit dem Thema Wohnungsnot befassen müssten. „Es darf nicht nur wegen des Diesels einen Gipfel im Kanzleramt geben“, sagte die Vorsitzende der Katholischen Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe und Direktorin des Caritasverbandes Berlin, Ulrike Kostka, am Donnerstag der Berliner Zeitung. „Es geht um elementare Grundrechte, um Menschenliebe und Solidarität. Das Problem der Wohnungsnot gefährdet den sozialen Frieden.“

Eine Million Wohungen fehlen

Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft ist die Zahl der Wohnungslosen in den vergangenen Jahren erheblich gestiegen. Waren es im Jahr 2014 bundesweit noch etwa 335.000, werde es im kommenden Jahr etwa 500.000 Wohnungslose geben. Laut Wohnungslosenhilfe fehlen im ganzen Land etwa eine Million Wohnungen.

In Berlin ist die Situation besonders dramatisch. Derzeit sind hier etwa 20 000 Menschen wohnungslos. Sie kommen in Notunterkünften, Übergangsheimen, bei Freunden und Verwandten unter. Etwa 6000 leben auf der Straße. Konkrete Zahlen gibt es nicht, lediglich Schätzungen. Initiativen fordern seit Langem eine Wohnungslosen-Notfallstatistik, wie sie andere Länder erstellt haben. Die Kirchenvertreter haben zehn Gebote gegen Wohnungsnot formuliert. „Die Politik kann es sich nicht länger leisten, dieses Thema zu verdrängen. Es gehört ins neue Regierungsprogramm und ins Kanzleramt“, sagte Kostka. „Es wird in Berlin immer schwerer, Wohnungen für Menschen mit sozialen Problemen zu finden. Sie sind bei der Wohnungssuche meist chancenlos.“

Statistik gefordert

Kritiker und Hilfsorganisationen fordern seit langem, dass die Bundesregierung eine Wohnungslosen-Notfallstatistik erstellt, wie sie andere Länder bereits haben. Mit diesen Angaben sind detaillierte Hilfsangebote und Programme möglich. Und: Es gäbe verlässlichere Zahlen. Denn auch jetzt noch befürchten Sozialverbände, die Zahl der Wohnungslosen könne noch weitaus höher sein – vor allem in Berlin. „Berlin ist ein Sehnsuchtsort für viele. Viele kommen her und leben jahrelang auf der Straße“, sagt Kostka.

Vor allem Osteuropäer und Frauen sind von Obdachlosigkeit betroffen. Alleine in der Hauptstadt haben nach aktuellen Schätzungen etwa 2 400 Frauen keine Wohnung, bundesweit rechnet die Caritas in den kommenden Jahren mit bis zu 160.000 obdachlosen Frauen. „Vor allem ältere Frauen sind betroffen“, sagt Sozialarbeiterin Elke Ihrlich. Sie würden wegen ihrer Kinder oft nur Teilzeit arbeiten, bekämen später eine geringe Rente und könnten deshalb schneller obdachlos werden.

Recht auf Wohnraum

Ähnlich problematisch ist die Situation wohnungsloser Menschen aus Osteuropa, die nach Berlin kommen. Sie haben in der Regel keinen Anspruch auf Sozialleistungen, sind nicht krankenversichert und campieren auf der Straße. In einem reichen Land wie Deutschland müsse es doch möglich sein, dass Männer und Frauen auch bei finanziellen Problemen in ihren Wohnungen bleiben dürfen, sagt Elke Ihrlich. Caritas-Direktorin Kostka ergänzt: „Jeder hat das Recht auf ein Bett und auf Wohnraum.“

Tatsächlich sei es in Berlin aber so, dass viele Menschen in Notunterkünften bleiben müssten, weil es für sie keine Wohnungen mehr gibt. „Wenn sich selbst manche aus der Mittelschicht ihre Wohnungen aufgrund steigender Mieten nicht mehr leisten können, wie sieht es dann erst bei Menschen in schwierigen Lebensumständen aus – bei Schulden, Sucht und psychischen Problemen?“, fragt Ulrike Kostka.

„Obdachlose Menschen brauchen 365 Tage im Jahr Hilfe."

„Osteuropäer fallen durch alle Netze. Sie leben am Rande der Gesellschaft und führen ein Leben im Schatten“, sagt Kostka. „Die Politik kann sich nicht länger leisten, dieses Thema zu verdrängen.“ Sie fordert vom Berliner Senat eine konkrete Strategie und dass Berlin auch auf Bundesebene Druck erzeuge. „Bund, Länder und Kommunen müssen das Problem gemeinsam anpacken.“

Die Berliner Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke) sagte der Berliner Zeitung: „Obdachlose Menschen brauchen 365 Tage im Jahr Hilfe. Daher werden wir mehr Mittel für die Wohnungslosenhilfe insgesamt an die Hand nehmen.“ Im Haushaltsplanentwurf für die kommenden zwei Jahre will die Sozialverwaltung 2,5 Millionen Euro mehr bereitstellen. Vor allem für wohnungslose Frauen und Familien will die Senatorin die Hilfsangebote verbessern. Zu den bisher 30 Plätzen kommen 70 weitere hinzu. „Wir werden zudem ein umfassendes Konzept zur Prävention von Wohnraumverlust erarbeiten“, sagte Breitenbach.