Hinter den Lichtern der Charité

Normalität ist nach zwei Jahren ein dehnbarer Begriff, findet unsere Autorin. 

Beleuchtete Fenster im Bettenhochhaus der Berliner Charité.
Beleuchtete Fenster im Bettenhochhaus der Berliner Charité.imago/Florian Gaertner

Es gibt sie noch, diese Abende, die sich auf unwirkliche Weise normal anfühlen. Wie früher, nicht das neue Normal. Und trotz ihres surrealen Wesens haben sie etwas sehr Handfestes. Man kann sie anfassen, sie fühlen sich weich und warm an, und mit ein bisschen Fantasie kann man sich in ihnen einwickeln. So ein Abend liegt hinter mir, mit einem Menschen, der mir sehr nahesteht, war ich in einem Lokal. Wir haben gut gegessen, uns über andere Kneipen unterhalten, über Bücher und Kinder und haben leise gelacht über die Frisur einer Frau am Tresen.

Nicht boshaft, sondern staunend und dankbar für die Heiterkeit, die sie uns damit schenkte. Ihre Dauerwelle erinnerte uns an die 1980er-Jahre, das Weißblond auch, und der Umfang ihrer Haarpracht sorgte ohne jedes Zutun für die 1,50 Meter Abstand zum nächsten Gast. Ausgesprochen hat das keiner von uns beiden. Unsere Getränke hat der Wirt auf einen Bierdeckel notiert. Wie ganz, ganz früher.

In der Gegenwart komme ich an, als ich in der Ferne die erleuchteten Fenster der Charité sehe. Die von Wohnhäusern haben meist etwas Heimeliges und ich stelle mir das Leben dahinter vor. Schreckliches kommt mir dabei selten in den Sinn, obwohl es das hinter verschlossenen Fenstern natürlich gibt.

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Die Lichter der Klinik jedoch rufen alles Gelesene und Gehörte der letzten Wochen auf den Plan. Stress, Not, Leiden und Tod. Und ich denke an ein Gespräch mit dem Kind. Es hatte Nachrichten aufgeschnappt und fragte, was eine „Triage“ sei. Ich erklärte es ihm in behutsamen Worten und endete mit den Worten: „Solche Entscheidungen zu treffen ist unmenschlich. Wenn ich an diejenigen denke, die in den Kliniken arbeiten, tut mir alles weh.“ Das Kind zeigte sein Nachdenkgesicht und sagte: „Ich könnte das entscheiden, wenn ich muss. Denn wenn ich keine Entscheidung treffe, sterben beide. Sterben mehr Menschen.“ Und sah mich groß an, mit einem entschlossenen Zug um den Mund.

Wie viel Schwere, wie viel Ernst diese bald zwei Jahre in die Köpfe gegossen haben. Auch und gerade in die kleinen. Was wird das mit ihnen anstellen? Und hört das irgendwann auf? Den Bierdeckel habe ich mitgenommen. Um mich daran erinnern zu können, dass sich Zeiten immer verändern werden. Dass „normal“ ein dehnbarer Begriff ist. Damit ich Abende wie diesen nicht vergesse, in seiner warmen Helligkeit und im Gleißen der Klinikfenster. Denn das, was hinter ihnen passiert, darf nie normal sein.